Vent'anni d'opposizione al restauro del Cenacolo vinciano
I Vizi Capitali - The Seven Deadly Sins

Dipinti e disegni in mostra

 


Mario Donizetti
(copyright Mario Donizetti - 1997/2000)

 

BRIEF AN HEGEL

Argumente der Ästhetik

 

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Mario Donizetti è considerato fra i massimi esponenti dell'arte figurativa e tra i maggiori ritrattisti della pittura del nostro tempo. Ha pubblicato nel 1992  "Perchè Figurativo", nel 1995 "Razionalità della Fede e della Bellezza", nel 1996 "Lettera a Parmenide", nel 1997 "Lettera a Platone", nel 1999 "Argomenti di estetica".
Time magazine ha pubblicato in copertina alcuni suoi ritratti fra i quali il ritratto di Papa Giovanni Paolo II (1985) oggi alla National Portrait Gallery, Smithsonian Institution di Washington.
Nel 1983 ha ricevuto dalla "Pinacoteca Ambrosiana" di Milano l'onore di un'esposizione antologica di dipinti e disegni nelle Sale del Museo. Una sua crocifissione è fra le opere esposte al Museo Tesoro della Basilica di
S. Pietro in Vaticano. Collabora a giornali e riviste con saggi di estetica e diagnostica del restauro.

  

Brief an Hegel

 
Sehr geehrter Herr Professor!

 

hegel-s.jpg (9333 byte)Griffbereit habe ich zwei Bände Ihrer „Vorlesungen über die Ästhetik“, die ich noch einmal lesen will. Ich glaube einer der Adressaten Ihrer Lehren zu sein und schreibe Ihnen heute, weil ich den wissenschaftlichen Beweis erfahren habe, daß Ihre Ästhetik, wie ich schon immer bezweifelt hatte, wahrhaftig ein Luftschloß ist.

Meines Erachtens ist schon in der Einleitung zu Ihrem gewichtigen Werk der grundlegende Fehler Ihrer Doktrin zu finden. Wie bereits in wundersamer Weise in Ihrer „Wissenschaft der Logik“ dargelegt, behauptet diese Grundlage, daß „das Endliche“ nicht wahres Sein ist: Sie beschließen, es mit folgenden Worten ins Unendliche verschwinden zu lassen: „Was ist, ist nur das Unendliche“ (Hegel, Wissenschaft der Logik, Suhrkamp 1996, S. 150). Sie entscheiden, ohne jedoch zu überzeugen, daß die endlichen Dinge als solche eine „nur täuschende äußere Gegenwart“ sind (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Suhrkamp 1999, S. 72).

Ihre Anschauung ist bestürzend. Ich glaube nicht, daß nur die Gegenstände, die wir wahrnehmen und von denen wir aus reinem Anthropozentrismus denken, daß sie um uns kreisen, „endlich“ sind. Endlich ist auch unser vernünftiges Sein.

Und wenn, wie Sie sagen, das Vernünftige wirklich ist, wird wirklich und nicht nur täuschend sein, wer dieses Wirkliche vernünftig denkt. Und wenn also der Vernünftige denkt, daß das Endliche wirklich und nicht eine täuschende Gegenwart ist, wird wohl jenes Unendliche täuschend sein, welches der Vernunft entweicht und dabei unverständlich wird und welches Sie für das wahre „Dasein“ halten. 

Sie dachten, die physischen Lebewesen wären die „Endlichkeit“ in der entgegengesetzten Bedeutung zur „Unendlichekeit“.

Sie glauben, die Totalität sei nicht die „Unendlichkeit“, denn Sie meinen, daß jedes „endliche“ Wesen ein solches dank seinem „Gegensatz“ ist, der als Gegensatz der endlichen Dinge nicht auf eine endliche Summe beschränkt werden kann.     

Aber diese theoretisch ausgearbeitete Wahrheitsschöpfung überzeugt nur die Träumer. Ich könnte mir nämlich genauso wie Sie ein Wesen als „Gegensatz“ eines Kunstwerks ausdenken und dabei verschweigen, daß der Gegensatz der Mangel des Kunstwerks ist und jedoch diesen Mangel mit einem Namen bezeichnen, der die Illusion seiner Existenz als ein dem Kunstwerk entgegengesetztes Wesen verliehe, so wäre das Kunstwerk ein solches dank dem Bestehen des Verhältnisses zu seinem Gegensatz. Aber es ist allen offensichtlich, daß der Gegensatz des Kunstwerks der einfache Mangel des Kunstwerks ist, das heißt ein Wesen, das es in der Wirklichkeit nicht gibt. Dies bedeutet auch, daß jedes Werk, soweit von der projektmäßigen Finalität gewollt, ein Kunstwerk ist und daß die Werke nur stufenweise vortrefflich oder geringfügig sind, jedoch die kleinen und die großen nicht im Gegensatz zueinander stehen. So ist es Ihrem „Unendlichen“ ergangen, das es nicht gibt, es aber dadurch, daß es einen Namen erhalten hat, scheinbar existiert.

Sie werden mir immer wieder entgegensetzen, daß die Totalität der endlichen Dinge nicht die Unendlichkeit sein kann, sondern endliche Totalität. So frage ich Sie also, wie eine endliche Totalität in ein „Unendliches“ verschwinden kann, das sich weigert, eine Totalität zu sein und gleichzeitig eine vom Endlichen unterschiedliche Natur für sich beansprucht, andernfalls wäre es dieselbe Totalität. Dieses Unendliche, das Sie als einzige Wirklichkeit definieren, beansprucht eine Unterschiedlichkeit der Natur im Vergleich zum zahlenmäßigen Unendlichen. Aber das „Endliche“ ist sich sowohl seiner selbst, als auch des zahlenmäßigen Unendlichen bewußt, da es ein Teil davon ist. Die persönliche Existenz der endlichen Seienden ist einzig und unwiederholbar, ihre einfache und alleinige Existenz läßt sie also wirklich und nicht täuschend „sein“.

Im Bewußtsein seiner selbst bestimmt dann das Endliche selbst seine eigene Grenze. Um die Idee der Endlichkeit haben zu können, hat das Endliche notwendigerweise die Idee der Unendlichkeit (als Totalität).  Es ist sich also der Unendlichkeit bewußt und gehört daher vernunftmäßig dazu. Sie behaupten ohne Einschränkungen, und deshalb falsch, daß das Vernünftige wirklich ist, also müßte unsere Endlichkeit wirklich sein, da sie vernünftig ist, aber wenn eine der beide notgedrungen verschwinden muß, ist es die von Ihnen erdachte Unendlichkeit, da sie an Selbstbewußtsein mangelt und daher außerhalb jeglicher Rationalität steht.

Ihre Unendlichkeit weist also in diesem Mangel, da es ein Mangel ist, die Grenze auf, die sie als Unendlichkeit annulliert und es einfach zur Totalität der Endlichkeit zurückführt, daher was „ist“, ist nur die Endlichkeit, die die Totalität bildet.

Herr Professor, was meiner Meinung nach eigentlich verschwinden soll ist die Illusion der „reinen“ Unendlichkeit, das Reine jedes Seins und Nichtseins, die reine Kunst und die „höchsten Bedürfnisse“, denn wenn man der Wirklichkeit die geschmähten „Zufälle“ entzieht, bleibt von der Wirklichkeit nichts übrig und tatsächlich gibt es im Encephalon keine Neuronantwort, wenn man kein unreines, relatives, sinnliches, endliches Bild wahrnimmt. Dies werden Sie am Ende meines Briefes sehen, aber sagen Sie mir bloß nicht, daß der Verstand auch das denkt, was die Sinne nicht wahrnehmen, weil es wissenschaftlich nicht stimmt. Wenn nämlich „die Sinneswahrnehmung eines Umweltreizes versuchsweise geändert wird, ändert sich die Struktur der Gehirnpartie, die für seine Integration zuständig ist. Folgendes ist ein Beispiel von G. Moruzzi. Wenn man die Sichtwahrnehmung umkehrt, indem man ab der Geburt vor ein Auge eine permanente Linse setzt, die die Bilder um 180º dreht, erhält man eine im Vergleich zur Gegenseite umgekehrte Strukturierung der betroffenen Okzipitalrinde“ (Vittorino Andreoli, La norma e la scelta,  Mondadori 1984, S. 25).

Diese Tatsache beweist, daß die Strukturalform des Gehirns von den Sinnesreizen der Außenwelt abhängt. Und da die Vernunft, d.h. die Funktion des Gehirns von seiner Struktur abhängt, muß die Vernunft notgedrungen von den Reizen der Außenwelt abhängen und jedenfalls mit der Außenwelt in Simultaneität stehen. 

Man versteht, daß die Strukturalform eines Fußes simultan zum Zweck seiner Funktion steht. Wenn man mit einem Trick das Sprungbein des Fußes durch das Keilbein der Nase ersetzen könnte, würde der Fuß seine logische Funktion, die logischerweise das Gehen ist, verlieren.

Also müssen Gehirn und Verstand notwendigerweise dieselbe Beziehung zueinander haben wie der Fuß und das Gehen. Die Logik des Gedankens würde geändert oder verhindert werden, wenn die Gehirnstruktur – wie für die Funktion des Fußes – geändert bzw. verhindert oder umgekehrt werden würde. So ist die Logik des Gedankens, d.h. das Denken, die logische Funktion des Gehirns, wie das Gehen die logische Funktion des Fußes ist. Wenn also das Denken von der Struktur des Gehirns und diese von den Sinneswahrnehmungen abhängen, so geht es daraus hervor, daß es zwischen dem Wirklichkeitsdenken und dem Wirklichkeitswahrnehmen keinen Widerspruch geben kann. Zwischen der vernünftigen bzw. encephalischen Wirklichkeit und der außerhalb des Encephalons stehenden Wirklichkeit ist es erforderlich, es bestehe kein Inhaltsunterschied.

Dies bedeutet jedoch nicht, daß die Vostellung, die wir von einem Gegenstand haben, die gesamte Wirklichkeit des Gegenstandes darstelle.

Die Wirklichkeit ist notwendigerweise mengenmäßig größer als ihre encephalische Vorstellung. Die Wirklichkeitsvorstellung nimmt von der Wirklichkeit nur das wahr, was für sie von planmäßig lebensnotwendigem Interesse ist. Es ist eben diese Fähigkeit, in der Wirklichkeit unseren planmäßigen Nutzen wahrzunehmen, was die Wirklichkeit für den darauffolgenden Eingriff unseres Plans entwickelt. Wenn es nicht so wäre, wäre die Wirklichkeit unbeweglich.

Der Ablauf scheint mir folgender zu sein: Einige Teile der Wirklichkeit gehen mittels der Sinne darstellerischer- und finalistischerweise ins Encephalon über und setzen sich im Gedächtnis fest. Der Künstler erarbeitet anhand dieser Daten eine neue Form und erzielt dadurch das Einsetzen eines Analogieverhältnisses der Finalität der künstlerischen Form zur Finalität der Form der Natur.

Diese Analogie der Kunstformen, genannt „Ähnlichkeit“ zu den Formen der Natur, ist leider der Ursprung eines Irrtums, nämlich jener zu denken, daß die einfache Kopie der Naturform (wenn eine solche Kopie überhaupt möglich ist) der Inhalt der Kunst sei. Aber der Ausdruck „Ähnlichkeit“ entspricht nicht dem Ausdruck „Analogie“. Der erste ist wegen der Unvorsichtigkeit der Vernunft nur auf die Formen und nicht auf ihre Funktionen bezogen. Und da jede Form einzig und unwiederholbar ist, weil eine Form, die einer anderen identisch ist, eine der anderen identische, also eine hinsichtlich der Natur nutzlose Funktion hätte,  ist es erforderlich, daß die „Ähnlichkeit“ zwischen den Formen, wie ich bereits gesagt habe, auf eine Unvorsichtigkeit der Vernunft zurückzuführen sei. Der Begriff der Analogie hingegen gründet sich auf die Form der Finalität und nicht auf die Täuschung der Ähnlichkeit. Sie werden mich fragen, worin formell diese Finalität in einem Kunstwerk besteht. Da ich Ihnen schreibe, um Ihnen sagen zu können, daß nur die Form Inhalt ist, werde ich Ihnen antworten, daß die Finalität, d.h. das Projekt des Künstlers sich in der künstlerischen Form durch das Ausschließen von formellen Elementen der Natur und das Einschließen von anderen formellen Elementen der Natur konkretisiert. Die ersten werden ausgeschlossen, da sie dem Projekt des Künstlers nicht entsprechen, die zweiten werden verwendet, um es hervorzuheben. Diese Selektion der Naturform, umgesetzt in die Kunstform, wird durch den Vergleich der künstlerischen Form mit der Form der Wirklichkeit hervorgehoben. Der Unterschied zwischen der künstlerischen und der genetischen Form ist konkret formell, d.h. konkret zweckgerichtet. In diesem Sinne hat der moderne „Expressionismus“ diese Wahrheit genau getroffen, wobei er jedoch durch übermäßiges Ausschließen bzw. Einschließen von zweckgebundenen Formen mangelhaft wird. Die Bilder, finalistisch überspitzt, verlieren an Glaubwürdigkeit. Damit will ich sagen, daß der Vorschlag des expressionistischen Künstlers einen bindenden, andauernden Zwangswert annimmt.  Um dem Empfänger nicht störend zu fallen, sondern von ihm akzeptiert zu werden, hat der Vorschlag des Künstlers ergeben und jedoch fest, zugänglich wenn auch intransingent, deutbar wenn auch eindeutig zu sein.

Schließlich hat er wie die Natur zu sein: projektmäßig offen, aber von Gesetzen geregelt.

Da das Kunstwerk ein Teil der Natur ist, indem es im Evolutionsprozeß eines Lebewesens grundlegend ist, entstammt es dem genetisch Überlieferten. Die projektmäßige bzw. künstlerische Form kann weder eine Revision noch eine Negation des Genetischen beanspruchen, sondern nur eine Evolution des Genetischen vorschlagen. Auf der anderen Seite würde allein die physische, ins technische Werk umgesetzte Geometrie der Naturgegenstände, d.h. eine reine Kopie, das Werk auf Passivität beschränken. Dies kann jedoch unmöglich geschehen, denn ein Doppel, d.h. eine „Kopie“, ist unmöglich.

So erhält die künstlerische Form durch ihre Zweckmäßigkeit Analogie zur wirklichen Gestalt. Sie nimmt eine projektmäßige Gestalt an, ohne sich von der natürlichen Form zu trennen.

(Ein Beispiel kann die Unterscheidung zwischen Analogie und Ähnlichkeit verdeutlichen: Ein Stundenglas und eine Armbanduhr haben weder Form bzw. geometrische Ähnlichkeit noch Funktion gemeinsam, sie haben jedoch denselben Zweck und wir sagen daher, daß beide Gegenstände analog sind.  Offensichtlich erkennt man nun, daß „Analogie“ und „Ähnlichkeit“ zwei getrennte Wesen sind. Und diese Analogie ist der Inhalt der Kunstformen und nicht die Ähnlichkeit zur Naturform, was bedeuten würde, den Inhalt der Kunst auf eine uns von der Unvorsichtigkeit der Vernunft verliehene Täuschung zu gründen).

Der künstlerische Inhalt besteht also in dem Vorschlag einer Gestalt in Analogieverhältnis zur Finalität der Natur. Und das Besondere an der Kunst ist es eben, daß sie eine neue synthetische Gestalt mit objektiven analytischen Teilen einer dem Projekt des Künstlers vorangehenden Gestalt erzeugt und da diese neue Gestalt analog zu einer wirklichen Gestalt ist, kann sie dieser scheinbar auch ähneln. Weiter dürfen wir nicht denken, wie Sie gedacht haben, daß die Finalität der Kunstform sich von der Finalität der Form der Wirklichkeit trennen kann. Wir dürfen nicht denken, daß die Finalität der Kunst die Thematik der „Interessen des Geistes“ sei, jenes Geistes, der, um „einzige Realität“ zu sein, wie Sie sagen, die Form und daher auch die Kunstform annullieren würde.

Die trügerische „Ähnlichkeit“ erklärt im Übrigen den analogischen Inhalt der Kunst nicht für ungültig. Man kann die bewegende Effizienz und was bewegt wird, nicht auf Gegensätze beschränken, einfach nur weil man die Täuschung der Ähnlichkeit, die unmöglich vermieden werden kann, haßt. In der Gestalt eines sowohl genetischen als auch künstlerischen Wesens befindet sich tatsächlich immer etwas, das nur teilweise diesem Wesen gehört, ich sage „teilweise“ und nicht „zufällig“, wie Sie möchten. Wenn man einen Esel besitzt, besitzt man auch seine Ohren und die Haare seiner Ohren. Damit meine ich, daß der Esel all seine Teile ist, auch jene, die Sie als zufällig definieren. Es scheint mir unmöglich, den „Inhalt“ des Esels zu besitzen, d.h. den „reinen“ Esel, einen „aus dem Geiste wiedergeborenen“ Esel (Hegel, Einleitung zur Ästhetik, Suhrkamp 1999, S. 14). Es scheint mir also nicht möglich, an die „Art“ des Esels zu denken, ohne an alle Esel zu denken, sodaß die „Idee“ der Eselart mir einfach als eine Vielfalt von Ideen, jede auf einen wahrhaften Esel bezogen, erscheint. Mir scheint, daß der Inhalt einer Gestalt all ihre „Zufälle“ sei und daher, was für einen Esel gilt, gilt auch für die Kunst. So ist der Inhalt des Kunstwerks seine zweckgebundene Gestalt, genau jene Gestalt, die Sie für zufällig halten, wie die Haare der Ohren des Esels.

Nehmen Sie an, aus unbekannten Gründen werden einige Esel ohne Haare geboren. Sie werden sofort sagen, daß diese ebenso Esel sind, auch ohne den Zufall der Haare. Nehmen Sie dann an, daß auch Tiere ohne Ohren geboren werden und Sie werden mir sagen, daß diese ebenfalls Esel sind. Nehmen Sie an, daß Tiere mit Hörnern, mit sechs Beinen, mit zwei Schwänzen geboren werden, dann hätten Sie wohl Schwierigkeit zuzugeben, daß diese ebenso Esel sind. Hätte dann ein Tier nicht alle „Zufälle“ eines Esels, sondern andere, müßten Sie ein neues Wort zur Bezeichnung des „wesentlichen“ Inhalts des neuen Tieres prägen und implizit zugeben, seinen Inhaltsbegriff, d.h. den Begriff der „Eselart“ von den „Zufällen“ abhängig gemacht zu haben, die gewisse Tiere aufgrund der Analogie mit anderen gemeinsam haben. Sie geben somit auch zu, und dies ist sehr schwerwiegend für Sie, daß der Inhalt nicht existiert, aber wenn er existiert, identifiziert er sich mit den zu einem persönlichen Projekt finalisierten Zufällen und in dieser Finalität ist für einen Esel und für jedes Lebewesen, das Haare hat,  auch das letzte Haar wesentlich, denn auch ein Haar ist wie ein anderer Teil, wie die Leber, das Gehirn oder andere Teile. Und da es wohl richtig ist, daß ich Sie bedränge, wie Sie mich bedrängt haben, wiederhole ich: Wenn sich die Idee von Kunstwerk auf den Inhalt des Kunstwerks bezieht, so wie sich die Idee von Esel auf den Inhalt des Esels bezieht und der Inhalt des Esels, wie es offensichtlich ist, dieselbe zweckgebundene Gestalt des Esels ist, ist der Inhalt des Kunstwerks seine eigene zweckgebundene Gestalt (und eine nicht zweckgebundene Gestalt kann nicht sein), die Sie hingegen als „zufällig“ definieren. So die abstrakte Idee des Esels. Die metaphysische Idee, die Idee der „Art“, die nach Platon jeglichem Esel vorausgeht und die Sie als wahrhafte Substanz gegenüber der „Gemeinheit“ der „Zufälle“ betrachten und abgesehen von den „Zufällen“ gegeben ist, gut, diese Idee existiert nicht und wir können im Stall auch keinen solchen Esel ohne seine wesentlichen Zufälle besitzen. Auch die reine Kunst, d.h. ohne den „Ballast“ der Zufälle, existiert also nicht, es existieren nur Gegenstände, die formgemäß mehr oder weniger vollkommen, besser gesagt formgemäß ihrem Zweck angemessen sind. Die metaphysische Idee von Gegenstand scheint mir ein Hinweis auf die projektmäßige Verwendung der Zufälle eines Gegenstandes zu sein. Unsere Planungsfähigkeit denkt und bezeichnet am Gegenstand als „zufällig“, was für unnötig gehalten wird und bezeichnet als substantiell, was für nötig gehalten wird. Aber diese Bezeichnungen betreffen die Funktionen, die wir den Gegenständen beimessen und sind keine Eigenschaften der Gegenstände, obschon die Gegenstände unsere Bezeichnungen zulassen. Und nun scheint mir die metaphysische Idee von „Kunst“ in Wirklichkeit auf den Gegenstand bezogen, wenn er unserem Projekt und nicht der metaphysischen „reinen Substanz“ der künstlerischen „Art“ angemessen ist. So erscheint mir die „reine“ Kunst als das Produkt eines Glücksspiels, denn die Konstruktion des „metaphysischen“ Begriffes der Kunst erfordert ebenfalls das „zufälligste“ der formellen Zeichen, aus denen der künstlerische Gegenstand zusammengesetzt ist, so wie für den metaphysischen Begriff des Esels auch das letzte Haar eines wahrhaften Esels erforderlich ist. 

Lieber Herr Professor, auch die Idee des „Seins“ ist von einem wahren Wesen abgeleitet, d.h. von seinen „Zufällen“, folglich von seinem von Ihnen so geschmähten „Fleisch“.

Schon Parmenides hatte eine Definition des Begriffes des „Seins“ versucht und mußte es zuerst auf die „Eins“ einschränken, aber wie ihm Platon antwortete, ist die Einheit eines wirklichen Wesens unmöglich, denn man müßte aus der Wirklichkeit seine „Teile“ ausschließen, die eine Vielzahl sind und eine Vielzahl kann keine „Eins“, d.h. die Einheit des „Seins“ bilden und daher ist kein Sein unter dem Begriff möglich, daß es nicht von seinen Teilen, d.h. von seinen Zufällen abgeleitet sei. Aber die außergewöhnliche Tatsache ist es, daß Sie nach mehr als zweitausend Jahren die Wahrheit nicht gesucht und sich darauf beschränkt haben, die Denker des „Daseins“ nachzuäffen.

Wenn man die Form wegnimmt, sehe ich Ihren so genannten Inhalt verschwinden, nimmt man aber die „Zufälle“ weg, gibt es kein „Sein“. Zwischen der Form der Wirklichkeit, d.h. zwischen der „zufälligen“ Form und ihrer „substantiellen“ künstlerischen Darstellung gibt es in der Tat nur unsere projektmäßige Verwendung der Zufälle.

Schließlich bleibt zwischen den Gegenständen und der Idee ihrer Substanz nichts anderes übrig, als nur die Verwendung, die wir von den „Zufällen“ machen. Was wirklich ist, sowohl in der Kunst als auch in der genetischen Natur ist infolgedessen nur die Form, die Sie als „zeitliche Zufälligkeit“  (Hegel, ibidem, S. 127) bezeichnen. Der wahre Inhalt ist also der, den Sie „Zufälligkeit“ nennen und der Ihnen gemäß im Gegensatz zum idealen Inhalt stünde, was mir hingegen als eine schlichte Verblendung erscheint. Kürzlich gab der Semiologe Umberto Eco, der sich leidenschaftlich mit den Problemen der Erkenntnis befaßt, die Schwierigkeit zu, die „Art“ eines „seltsamen“ Tieres, „Schnabeltier“ genannt, zu definieren. Diese Schwierigkeit ist eben auf den idealistischen Fehler zurückzuführen, wonach das Wirkliche als zufällig und auf das Ideale folgend gedacht ist. Die Klassifizierung des neuen Tieres laut den schon erworbenen Kenntnissen über andere Tiere könnte auch unmöglich sein, was eine neue Klassifizierung erfordern würde und dies weil die ideale Klassifizierung auf das wirkliche Tier folgt, wie wir bereits für den Esel gesagt haben.

All dieser „reine“ Kram sollte aus unserer Sprache verschwinden. Was wir als „Sein“ bezeichnen, ist nur physisch bestimmt und  „unrein“ nicht unter „Art“, sondern einzig und unwiederholbar.

Die so genannten absoluten bzw. ideell „reinen“ Werte scheinen mir ein konventioneller Ausdruck zu sein, der der praktischen Vermittlung von nicht absoluten und wirklich „unreinen“ Werten dient.

Greife man nicht auf die konventionelle Fiktion der Existenz eines reinen Punktes zurück und sollte man einen Bleistiftstrich auf dem Petersplatz anbringen, so müßte man auf jeden Fall den Standort des Bleistiftstriches genau angeben. Aber der Standort des wirklichen Bleistiftstriches auf dem Petersplatz ist nur dann möglich, wenn man diesem Ort per Fiktion einen reinen Punkt entsprechen läßt. Aber auch ein wirklicher Bleistiftstrich ist in viele wirkliche Striche teilbar und welcher dieser Striche der ausgewählte ist, befreit nicht von einer weiteren Präzisierung eines Punktes der viele, aus denen jener Strich zusammengesetzt ist. So fordert der wirkliche Standort die Fiktion des reinen Punktes, der, wie man wohl weiß,  „unrein“, d.h. wirklich ist.

Die Wirklichkeit dieses Nichtexistenten besteht in der Existenz seiner Fiktion. Die wirkliche Form ist bis ins Unendliche teilbar, aber der reine Punkt fordert seine Unteilbarkeit. So ist auch der reine Punkt nach dieser Anschauung jener „Gegensatz“ zum unreinen Punkt, der dadurch, daß er dem Seienden entgegengesetzt ist, nicht existiert, mit Vorbehalt des Namens, der ihm den Schein der Existenz verleiht.

Sie werden sich fragen, warum der Geist diese Fiktion benötigt, um die objektive physische Realität zu vermitteln und meiner Meinung nach könnten Sie sich die Antwort selbst geben, daß wir, obwohl von der Teilbarkeit des Realen bis ins Unendliche bewußt, seine Teile zu unteilbaren Wesen erheben, denn unteilbar ist ihre Verwendung. Und für uns zählt an der Realität das, was wir aus der Realität projektmäßig machen. Die projektmäßige Idee ist analogisch gesehen wie die Lüge, die die Braut ihrer Mutter auftischt, wenn sie ihr den Verlobten als einen reinen und frommen Jungen vorstellt, während sie ganz genau weiß, daß er ein rücksichtsloser Frauenheld ist, aber sie muß ihr Ziel erreichen. Auch die Mutter kennt die Wahrheit, akzeptiert jedoch den Bräutigam ihrer Tochter, die zwar einen unreinen Ehemann, aber immerhin einen Ehemann haben wird. So ist die reine oder metaphysische Idee die Darstellung des projektmäßigen Nutzens dessen, was unrein und physisch ist.

Die Idee des Gegenstandes transzendiert den physischen Gegenstand, um ihn dem projektmäßigen Nutzen anzupassen, sie kommt aber nicht vor, wie jeder gute Idealist denkt, sondern nach dem transzendierten Gegenstand und trügt ihn nicht, sondern stellt ihn objektiv dar. Was die Braut macht, um wirklich zu heiraten, machen wir alle: Um uns selbst akzeptieren zu können, denken wir an uns und stellen uns selbst mit einer Idee dar, die uns überragt. Indem ich an mich denke, werde ich, wie Sie sagen würden, von meinen „Zufällen gereinigt“, andernfalls würde ich mich in ihrem unendlichen Labyrinth verlieren. Meine Identität ist die transzendente Darstellung meiner selbst. Mir aber liegt es daran, Ihnen Folgendes zu sagen: Meine Identität ist nicht erhabener oder edler als mein „Fleisch“, wie Sie behaupten. Mit Ihren Worten müßte ich sagen, daß die Idee, die mich transzendiert, wesentlich gemeiner als mein Körper ist, denn sie ist die Dienerin ihres Herrn, der ich bin, in meiner Unreinheit, Teilbarkeit, Vergänglichkeit. Aber von meinem Standpunkt her erhebt sich mein Körper nicht über die Idee, die ich von meinem Körper habe und das projektmäßige Gedächtnis, welches ich von mir selbst habe, entspricht dem, was Sie „Geist“ nennen. Dieses Gedächtnis ist mich selbst, finalisiert wie die Lüge der Braut.

Und Sie beharren weiter auf der Reinheit. Sie lassen das reine Sein und das reine Nichts gleich, aber auch entgegengesetzt sein. Spielen Sie etwa mit den Worten? Sie sagen auch, daß wenn „wir uns durch die Vernunft über das Zeitliche erheben, so läßt man dies ganz unbeschadet des Endlichen geschehen“ (Hegel, Wissenschaft der Logik, Suhrkamp 1996, S. 150).

Ist aber unsere Erhebung über das Zeitliche nicht etwa der Auffassung des zeitlich Endlichen in einem niedrigsten Zustand gleich? Warum erfinden Sie die Gegensätze, um sie dann in der Wirklichkeit zu annullieren, als ob die Wirklichkeit auf die Gegensätze folgen würde, d.h. als ob die Gegensätze die Ursache der Wirklichkeit wären? Und da eine Sache nicht gleichzeitig eine andere „sein“ kann, so ergibt sich daraus, daß die „Gegensätze“, die Sie als solche gleichzeitig betrachten, sich dann nicht miteinander vereinbaren können, ohne aufgehoben zu werden. Nur weil sie als unterschiedlich und nicht als gegensätzlich am gleichen finalistischen Projekt teilhaben, bilden sie das „Dasein“, andernfalls gäbe es kein „Dasein“.

Mir scheint, daß der Gegensatz in der Vereinbarung seine Identität verliert und somit, in dem „anderen“ erloschen, auch die Kraft, die projektmäßige und gemeinschaftliche Einheit des „Daseins“ zu bilden. Die Einheit des „Daseins“ besteht aufgrund der Finalität und daher sollen die Gegensätze in der  gemeinsamen Finalität nur unterschiedlich sein. Mir scheint, daß die ganze Welt eine Gemeinschaft von „Unterschiedlichen“ mit einem einzigen Ziel ist.[1]  

[1] Anmerkung Nr. 1 – Brief an Platon

 

Die zu „vereinbarenden“ Gegensätze scheinen mir nur Marionetten zu sein.  Equilibristen, die anhand Ihrer Lehre die Existenz ableugnen, werden heutzutage Philosophen genannt. Sie leugnen dieses „Dasein“, das streng genommen nach Ihrer Logik nichts ist, wenn es aufgrund der Vereinbarung des reinen Seins und des reinen Nichts, die Sie als identisch mit nichts voraussetzen, besteht. „Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe“, sagen Sie, und wenn in der „Vereinbarung“und im „Übergang“ des einen ins andere „jedes in seinem Gegenteil verschwindet“ (Hegel, ibidem, S. 83), lassen beide beim Verschwinden das „Dasein“ nicht auftauchen, sondern lassen im Nichts verschwinden, was schon als Nichts erschienen war. Wenn das Sein übergeht (und verzeihen Sie mir, wenn ich nicht verstehe, was „übergehen“ bedeutet, ich gebe jedoch vor, es zu verstehen), wenn das Sein also ins Nichts übergeht, wird es, scheint mir, ein Nichts. Und so, indem das eine in das andere übergeht, erreichen sie nichts anderes, als sich höchstens ins andere zu verwandeln und alles wie zuvor zu lassen. Aber was ist, ist und geht nicht über. Sie hatten Phantasie zum Verschenken, aber ich glaube nicht, daß es von Vorteil ist, davon Gebrauch zu machen.

Verzeihen Sie mir diese Rüge, aber ich schreibe Ihnen als Maler endlicher und daher konkreter Dinge. Ich schreibe Ihnen, denn ich will Ihnen mitteilen, was die wissenschaftliche Forschung zu Ihrer Zeit noch nicht entdeckt hatte. Heutzutage liefern die Neurowissenschaften den Beweis, daß Ihr ästhetisches Schloß in Trümmern liegt und die Prophezeiung des Todes der Kunst sich nicht bewahrheitet hat… 

Man hat nämlich entdeckt, daß nur die „endliche“ Erfahrung wirklich ist und daß sich die metaphysische Vorstellung der Unendlichkeit auf die empirische Erfahrung beschränkt.

Man muß wohl zugeben, daß Sie von Immanuel Kant fasziniert wurden. Sie halten für erforderlich, nach Kants Worten, „die ersten Grundlagen der Fähigkeit der von der Erfahrung unabhängigen Prinzipien zu entdecken“ (Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Laterza 1984, S. 5), die Sie folgendermaßen definieren: „Absolutheit der Vernunft in sich selbst, welche den Wendepunkt der Philosophie in der neueren Zeit herbeigeführt hat, dieser absolute Ausgangspunkt ist anzuerkennen und an ihr (an der Kantischen Philosophie) nicht zu widerlegen“ (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Suhrkamp 1999, S. 84). Trotzdem geben Sie im Gegensatz zu Kant zu, daß es möglich ist, das Schöne in dem Begriff zu erfassen. Sie stellten sich die Form der Natur als zufällig vor oder als eine „rein sinnliche Auffassung“ (Hegel, ibidem, S. 57) oder auch als „eine nur täuschende äußere Gegenwart“ (Hegel, ibidem, S. 72). Die endlichen Dinge durften für Sie nicht real, sondern nur ein Schein sein, der als „bloße Hülle“ gesetzt ist (Hegel, ibidem, S. 77).

Mit Umsicht wechseln Sie jedoch in ihrer Abhandlung beide Gesichtspunkte ab. Ich war Zeuge einer Auseinandersetzung zwischen zwei Ihrer Anhänger.  Einer sagte, Sie schlügen den Reifen, um das Faß zu modellieren und der andere war der Meinung, sie schlügen das Faß, um den Reifen einzupassen. Zuerst geben Sie nämlich zu, daß „der Geist nur in seinem Leibe in genügender Art sinnlich erscheint“ (Hegel, ibidem, S. 110) und daß das Geistige und das Sinnliche „im künstlerischen Produzieren eins sein müssen“ (Hegel, ibidem, S. 62). Weiter behaupten Sie jedoch, daß der Körper in der künstlerischen Darstellung „aller Bedürftigkeit des nur Sinnlichen und der zufälligen Endlichkeit des Erscheinens entnommen sein muß. Ist in dieser Weise die Gestalt gereinigt, um den ihr gemäßen Inhalt in sich auszudrücken… “ (Hegel, ibidem, S. 110).

Daß Sie nun um den heißen Brei herumreden, hat‘s nur zum Zweck, gleichzeitig auf zwei Hochzeiten zu tanzen, auch wenn Sie das weniger passende Fest bevorzugen. Aus diesem Grunde streiten Ihre Anhänger auch heute noch und vielleicht auch noch weiterhin in der Zukunft, im ständigen Versuch zu klären, ob Sie ehrlich waren. Alle zwei Zeilen schreiben Sie, daß die Kunst, da sie den Geist zu ihrem eigentlichen Gegenstand hat, „die Anschauung desselben nicht durch die besonderen Naturgegenstände als solche, durch Sonne z. B., Mond, Erde, Gestirne usw. zu geben vermag. Dergleichen sind freilich sinnliche Existenzen, aber vereinzelte, welche für  sich genommen die Anschauung des Geistigen nicht gewähren“ (Hegel, ibidem, S. 140).

Jede zweite Zeile Ihrer Abhandlung findet man den „Kampf des Geistes gegen das Fleisch“ (Hegel, ibidem, S. 80), den Willen, der „seinen direkten Gegensatz an der Natur, den sinnlichen Trieben hat“ (Hegel, ibidem, S. 79).

Und Ihre Botschaft wird am Ende folgendermaßen mitgeteilt: „Man kann wohl hoffen, daß die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein“ (Hegel, ibidem, S. 142).

Herr Professor Hegel, Ihnen wurde Gehör geschenkt. Die Form der Kunst wurde in Form von Scheiße in Dosen perfektioniert, d.h. von „mèrde d’artiste“, in französischer Sprache, denn das hört sich immer „nobel“ an.

Ihr Philosophieren, lieber Herr Professor, rief ganze Generationen von kleinen Historikern, kleinen Ästheten, dem Plagiat und der Kopie ergebenen Denkern sowie von kleinen Künstlern mit sozialpolitischen Ambitionen ins Leben, alle Anhänger ihrer Schulen, welche mal als links- und mal als rechtsgerichtet bezeichnet sind, sich aber voneinander nur an den Tuchlappen unterscheiden, womit sie ihre Scham verdecken. 

Aber heutzutage zwingen die Neurowissenschaften Ihre Schulen, Sie selbst, Ihren Meister und den Meister der modernen Meister in die Knie. Ich spiele hier auf Descartes an, der für die Existenz bürgt, weil sie gedacht ist. Heute ist es wissenschaftlich erwiesen, daß „das Gehirn Gegenstände benötigt, um zu denken, so wie die Augen, um zu sehen“ (Changeux, Ragione e Piacere, Cortina 1995, S. 112). Obwohl Descartes selbst seine Überlegung dazu äußert, indem er sagt: „in der Aussage ich denke, also bin ich ist absolut nichts, was mir diese Wahrheit garantiert, als nur, daß es mir deutlicher ist, daß man sein muß, um zu denken“ (Descartes, Versuch über die Methode, Mondadori 1993, S. 32), behauptet die so genannte moderne Welt, die Wirklichkeit sei nicht vor deren Denken, sondern sei es vielmehr Garantie der Wirklichkeit, derer zu denken gemäß der interpretierten Aussage von Descartes und der nachfolgenden Theorie Kants der apriorischen Erkenntnisse. Und dazu der so genannte, heute modische „schwache Gedanke“ bezweifelt die Existenz der Wirklichkeit, denn das Denken an sie gewährleistet sie nur auf subjektive Weise. Auch Sie, Herr Professor, stimmten zur höheren Sicherheit der modernen Welt mit Descartes und Kant überein mit den Worten, daß „das Wirkliche vernünftig und das Vernünftige wirklich ist“. Heute können die Forschungen über das Encephalos den Philosophen helfen. Man hat festgestellt, daß nur das physische Wirkliche die Idee des Wirklichen bilden kann, wie bereits gesagt. Und doch ist das zentrale Nervensystem eine programmierte Organisation gemäß einem Bedürfnis, das seinem rationalen Bewußtsein voransteht. Die Erhaltung des Lebens ist ein Bedürfnis, das für alle Wesen vor dem encephalischen Bewußtsein der Erhaltung steht. Und tatsächlich besitzen dieses Bedürfnis auch Organismen ohne Encephalos, also ohne Vernunft. Daher muß das kartesianische „cogito“ immer mehr vom „Sein“ gewährleistet werden. Denn es steht fest, daß man sein kann, ohne zu denken, zu sein. Die moderne Welt hingegen hat das Sein darauf beschränkt, nicht sein zu dürfen, da sie die Vernunft dem Sein voranstellt.

Es ist wahr, daß wir uns Menschen mit Flügeln vorstellen können.

Die Existenz der Menschen und der Flügel ist jedoch wirklich. Die grundlegenden  und analytischen Elemente dieses Gegenstandes des Gedankens stehen in einer Analogiebeziehung zur genetischen Wirklichkeit, obgleich der Gegenstand ihrer Synthese überhaupt nicht genetisch sei.

Das Kunstwerk stellt eine vernünftige, wenn auch unwirkliche Gestalt dar. Ihre Schüler sowie die Plagiatoren in ihrer Eigenschaft als neuhegelsche Philosophen blamieren Sie im höchsten Grade, wie Sie eben verdienen, indem sie Ihre Aussage („Das Vernünftige ist wirklich“) wörtlich nehmen und behaupten, daß die Kunst unvernünftig ist. Aber die Kunst wäre nur dann unvernünftig, wenn sie keine Analogiebeziehung zur bestehenden Wirklichkeit hätte, wie es von den modernen Informalisten vertreten ist, also von Ihren guten Schülern, die, vom Wirklichen als Vernünftigen und vom Vernünftigen als Wirklichen schwärmend, glauben, daß die Kunst, da sie unwirklich ist, auch unvernünftig sei, womit wohl die Unbesonnenheit ihres Denkens bewiesen ist.

Es entspricht der Wahrheit, daß das Wirkliche vernünftig ist, aber nicht immer ist das Vernünftige wirklich. Jedes künstlerische Projekt ist nämlich vernünftig und doch unwirklich. Daher kann ich sagen, daß ich denke, weil ich bin und nicht umgekehrt, obwohl sich alle dieser Wahrheit schon bewußt waren, auch bevor man die Ergebnisse der Neurowissenschaften kannte. Heute ist die „rein sinnliche Auffassung“ (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Suhrkamp 1999, S. 57) Unsinn, denn das Wirkliche zu denken und das Wirkliche sinnlich aufzufassen sind ein und dieselbe Sache. Man entdeckt auch gerade, daß die Sinne die Fähigkeit besitzen, mit Intelligenz auszuwählen, ohne dabei auf das encephalische Denken zurückzugreifen. Da die Zweckmäßigkeit der künstlerischen Form eine sinnliche Analogiebeziehung zur Zweckmäßigkeit der vorhandenen genetischen Form besitzt, so wird sie in ihrem genetischen Wert von der Zweckmäßigkeit der vorhandenen genetischen Form gewährleistet. 

Das Lebewesen ist also die Verkörperung seines künstlerischen Projekts, dessen Effizienz als zeitweiligen Besitz aufgrund des Bedürfnisses nach genetischer Effizienz erteilt wird.

Es wäre wohl eine Anmaßung, Ihnen den Unterschied zwischen Eigentum und Besitz eines Gutes zu erklären. Sie wissen besser als ich, daß für den Besitz das Eigentum nicht unbedingt notwendig ist. Wenn ich also das Bedürfnis nach meinem künstlerischen Projekt besitze, bin ich nicht dessen Eigentümer. Jedes Bedürfnis, das meines ist, weil ich es besitze, kann mir also entzogen werden. Daher glaube ich nicht, daß Sie sich entrüsten, wenn ich behaupte, daß ich nicht der Eigentümer meiner selbst bin, wohingegen Sie meine Worte, daß mein Fleisch und mein Geist dasselbe sind, sicherlich aufs Äußerste mißbilligen. Ich schreibe Ihnen eben darum, um Ihnen es mit der Unterstützung von Scharen von Wissenschaftlern zu sagen, die, glauben Sie mir, in jeder Hinsicht Philosophen sind. Die Kunst ist das Erzeugnis der Art, die sich selbst aufgrund ihres Bedürfnisses organisiert. Sie sagen, „alles Geistige ist besser als jedes Naturprodukt“ (Hegel, ibidem, S. 49). Jedes Naturwesen besitzt jedoch eine zweckgebundene, auf seine persönliche Form bezogene Funktionalität, wie man leicht sehen kann. Daher muß die Form der Natur die Form ihrer Zweckmäßigkeit, d.h. ihre künstlerische bzw. geistige Form sein. Daraus folgt, daß die Zweckmäßigkeit, jede auch historisch unmoralische Zweckmäßigkeit, geistig ist, also sind die Form der Natur und der Geist der Natur dasselbe Wesen und der Beweggrund der Effizienz dieses Wesens kann als Gott oder Primärbedürfnis der Existenz bezeichnet werden. Mir scheint zu verstehen, daß Sie unter „geistig“ meinen, was „moralisch“ ist. Mir scheint auch zu verstehen, daß Ihr „absoluter Geist“ nichts anderes als absolutes Wohl der historisch vereinten Menschen sei. Aber es scheint mir, daß der „Geist“ das einfache Planen der gesamten Materie sei und daß das Projekt eines Wesens als moralisch oder unmoralisch zu definieren sei, wenn es der Gesellschaft der Individuen, die die Regeln des eigenen Überlebens vorschreibt, nützlich oder unnützlich ist. Brot und Fische zu vermehren, um eine Menschenmenge zu ernähren, ist höchst moralisch und hat als Beweggrund eine große Menschenliebe. Aber den Fischen erscheint diese Vermehrung ihres Todes als eine unheimliche Aggression der Menschen. Die Menschen ihrerseits halten die Pest für eine unheimliche Aggression. Die Flüche der Menschen gegen Gott wegen des Übels, das andere Wesen den Menschen zufügen, sind darauf zurückzuführen, daß sie, genauso wie Sie, den „Geist“ mit der Moral der Menschen verwechselt haben. Gott kann weder verflucht noch angebetet werden, denn er ist das projektmäßige Bedürfnis aller Wesen, einschließlich jener, die die Menschen zerstören.

Herr Professor,  moderne Erforschungen sagen uns, daß „das Äußerliche der Gestalt“ (Hegel, ibidem, S. 102) nicht existiert.

Denn unser Geist ist unser eigener zweckgebundener Körper mit keinen Außen-, sondern nur Innenseiten und Inhalt seiner selbst, daher „rührt die Mangelhaftigkeit der Form“ nicht „von der Mangelhaftigkeit des Inhalts her“ (Hegel, ibidem, S. 105). Sondern von sich selbst, wenn sie an sich selbst mangelt.

Die Kunst reinigt die Form des Sinnlichen nicht, da das Sinnliche selbst Kunst ist. Die Kunst eines Künstlers ist nur ein Teil der genetischen Kunst und sie personalisiert sich durch eine auf einen persönlichen Zweck finalisierte Wahl.  Nur auf diese Weise ist die Kunst persönlich, auch wenn sie universell ist. Die Kunst ist die Endlichkeit der Unendlichkeit. So kann es in der Natur nichts anderes geben als nur totale Reinheit und substantielle Form und nie „bloßen Schein“ (Hegel, ibidem, S. 22).

Die genetische Form, d. h. die Form der Natur, ist ihr eigener Geist, der sich seit Milliarden von Jahren auf einen Zweck hin verarbeitet. Ich wiederhole mich nun und sage, die Form der Natur sei meiner Meinung nach das abschließende, wenn auch nicht das letzte künstlerische Meisterwerk der genetischen Natur und die Kunst eines einzelnen Künstlers sei ein Teil der Form der Natur, die vom Künstler als genetischen Individuum finalisiert wird. Und daher kann es keine genetische noch künstlerische Form geben, die ihrem Inhalt unangemessen ist. Eine Ihrer Thesen beteuert, daß es „eine unvollkommene Kunst“ geben kann, „die in technischer und sonstiger Hinsicht in ihrer bestimmten Sphäre ganz vollendet sein kann, doch dem Begriff der Kunst selbst und dem Ideal gegenüber als mangelhaft erscheint“ (Hegel, ibidem, S. 106). Wollen Sie behaupten, daß es eine formell vollendete Kunst geben kann, d.h. eine in ihrer künstlerischen Sphäre vollkommene, den künstlerischen Inhalten gegenüber jedoch mangelhafte Kunst, wonach sie also unvollkommen wäre? Sozusagen eine vollkommene und doch unvollkommene Kunst, was mir erbärmlich scheint. Bei jedem Anlaß sagen Sie, daß es im künstlerischen Fortgang zwei Wege gibt, die von demselben Fahrzeug befahren werden, und zwar einen formellen und zufälligen, wie Sie sagen und einen geistigen. Aber wann und wie diese beiden Wege sich kreuzen, damit das Fahrzeug den Weg der wahren Kunst befährt, das sagen Sie nicht und mehr konnten Sie darüber nicht sagen, denn wenn Sie sich mit diesem Problem tiefer befaßt hätten, hätten Sie den Widerspruch: „Das Endliche verschwindet“ etc. etc. lösen müssen, wonach die Natur als unmächtig zu „sein“ dargestellt wird und, wie Sie sagen, auf die Äußerlichkeit angewiesen ist. Ihrem Vorschlag gemäß haben meine Zeitgenossen diese Äußerlichkeit aus der Kunst verjagt und wie man sehen kann, ist nichts geblieben. Und dies ist darauf zurückzuführen, daß die Äußerlichkeit nicht äußerlich, sondern ganz innerlich ist und daß es nur einen Weg gibt.

Ihnen, lieber Herr Professor, ist wirklich ein großes Versehen unterlaufen. Sie haben sich von einem imaginären Geist blenden lassen. Es war Ihnen nicht vergönnt zu denken, daß jede Form der Natur einzig und unwiederholbar ist und uns daher, wie das Experiment Moruzzis beweist, für sich die Vorstellung von sich selbst vorgibt. Die Unwiederholbarkeit einer Form erhebt sie zu „Substanz“, sodaß, wie es in der Wirklichkeit ist und man gesehen hat,  sie gedacht und rationalisiert wird. Und was die Formen der Natur zum alleinigen und universellen Wert führt, ist ihre übereinstimmende Zweckmäßigkeit. Ihre Freiheit ermöglicht ihnen die Wahl eines persönlichen Wegs zu einem gemeinsamen Ziel. Die Freiheit des Künstlers ermöglicht auf diese Weise eine formelle Entscheidung für sein Werk, das zu jenem im Einklang mit dem genetischen Zweck stehenden Ziel konvergiert. Und je mehr seine formelle Entscheidung seinem Zweck angepaßt ist, desto schöner ist sein Werk. Wenn aber eine Kunstform einen widersprüchlichen und nicht eindeutigen Zweck hat, ist also ihrer Vollkommenheit zu diesem Zweck, folglich ihrer Schönheit eine Grenze gesetzt.

So sind ein Gemälde, ein Haus, ein Paar Schuhe, ein Vogelnest, ein Bienenstock Teile des Körpers selbst desjenigen, der sie erzeugt hat. Da jedoch die Schönheit der formellen Vollkommenheit in Bezug auf einen eindeutigen Zweck angemessen ist, ist sie an kein moralisches Gut einer geschichtlichen Epoche gebunden. Gestatten Sie mir, Herr Professor, die Moral einer historischen Gruppe von der Ethik der Art zu unterscheiden. Wenn das Gen die persönlichen und historischen Erfahrungen der Gruppe als nutzlos für die Art erachtet, löscht es sie aus. Was Sie „absoluten Geist“ nennen, könnte sogar ein historischer abzustoßender Fehler sein. Gestatten Sie mir also, anderer Meinung zu sein und zu sagen, daß das künstlerische Wirken ein Entwicklungsprozeß hat. Es entwickelt das Individuum genetisch, auch wenn es das Individuum und seine historische Gruppe moralisch  verschlechtern sollte.

Das Kunstwerk hat eine Bestimmung, die über die Zeit der historischen Moral hinaus geht, in der es erzeugt wird. Das Kunstwerk fördert, auch wenn es aufgrund seiner Thematik negativ ist, die Anpassungsfähigkeiten an die Umwelt, es entwickelt das Individuum und seine Umwelt. Künstlerisch ist in dieser Hinsicht sowohl die genetische Form eines Individuums, als auch die von ihm aufgrund der Notwendigkeit, ein genetisches Individuum zu sein,  erzeugte Form. Platon nahm an, das Schöne sei auch gut, also gab auch Platon zu, daß das Schöne nicht unbedingt gut ist:: „Nicht gering wird der Vorteil sein, wenn die Poesie nicht nur süß und lieblich, sondern auch nützlich erscheinen wird“ (Platon, Politeia X, Rizzoli 1953, S. 438,). Es ist klar, daß sich in einem Werk, das historisch unmoralische Verhaltensweisen preist, das moralische Gute nicht befinden kann. Aber die Schönheit eines Kunstwerkes ist die einfache Vollkommenheit seiner Form, die wohl auf einen Zweck ausgerichtet ist, jedoch nicht in der moralischen Güte bzw. Nützlichkeit des Zwecks selbst liegt. Ich kann Ihnen hier ein banales Beispiel nennen: Zwei Athleten kämpfen um den Sieg in einem Wettlauf. Wenn einer der beiden auf halbem Wege beginnt, über das Mysterium der Heiligen Dreifaltigkeit nachzudenken und dabei die Koordination seiner Bewegungen verliert, ist das im Hinblick auf die religiöse Problematik nichts Schlechtes,  also handelt er gut und was er hinsichtlich der religiösen Problematik macht, ist gut. Er handelt aber schlecht und dies ist nicht gut, um den Wettkampf zu gewinnen. So kann man also leicht sagen, daß der erste Athlet den Wettkampf gewonnen hat, weil er alle Formen seiner Energie dem Zweck gemäß perfekt koordiniert und eine für einen eindeutigen Zweck perfekte Form realisiert hat. Im Vergleich zum anderen Athleten hat er eine künstlerische Form geschaffen. Während er läuft, kann der Athlet etwa eine dem Problem der Heiligen Dreifaltigkeit angemessene und gleichzeitig eine dem Sieg des Wettlaufs unangemessene künstlerische Form erzeugen. Auf jeden Fall ist aber der Wert der beiden Formen auf ihre formelle Perfektion bezogen, die im Endprodukt und nicht in der Nützlichkeit des Endproduktes zum Ausdruck kommt, andernfalls würde der Athlet, der den Wettkampf verliert, nachdem er mit seinem Denken an die Dreifaltigkeit Gottes ein höheres Gut als den Wettkampfsieg erzeugt hat, den Wettkampf gewinnen, indem er ihn verliert. Aber die Kunst, einen Kampf zu gewinnen, ist nicht die Kunst, das Mysterium der Dreifaltigkeit Gottes zu lösen. Sie hingegen glauben, daß es eine perfekte Form mit unzureichendem künstlerischen Inhalt geben kann. So als ob Sie glauben würden, daß der Athlet, der den Wettkampf verliert, weil er ein höheres geistiges Gut erzeugt hat, indem er an die Dreifaltigkeit Gottes dachte, substantiell besser laufe als der Athlet, der gewinnt. Sie glauben nicht, das Kunstwerk sei seine eigene Form. Aber wer gewinnt, läuft besser, da er schneller läuft. Er hat eine quantitativ höhere, auf den Zweck abgezielte Form erzeugt als der Verlierer. Die zweckgebundene ausgeführte Quantität bestimmt die Qualität des Ergebnisses. So ist der künstlerische Gegenstand von der höheren oder geringeren Menge an zweckgebundener Form bestimmt und dies sträubt Ihnen sicherlich die Haare. Um noch deutlicher zu werden, muß ich Ihnen ein paar weitere Beispiele anführen. Ein Gemälde soll einem ästhetischen Urteil unterworfen werden und wir nehmen an, es sei die Darstellung des Lasters des Zorns. Wenn in diesem Werk Formen dargestellt sind, die darauf schließen lassen, der Zorn sei ein friedvoller Gemütszustand, entsteht bei diesem Werk die doppeldeutige Widersprüchlichkeit, die ich bereits mit dem Fall des Athleten beschrieben habe, der den Wettlauf verlangsamt, um zu philosophieren und der seinem Lauf mengenmäßig spezifische Form entzieht. Das ästhetische Urteil fällt also negativ aus, ist hingegen positiv, wenn das Kunstwerk eine mit seinem Zweck vollkommen übereinstimmende Form besitzt, nämlich dem Zweck, das Laster des Zorns in einer seinem Zweck angepaßten Menge an Form darzustellen.

Aber auch die einfache Darstellung einer genetischen Form ohne Thematik kann in abgestufter Weise je nach dem Grad der Analogie zum Zweck der genetischen Form vollkommen oder unvollkommen sein: Ein Portrait ohne Thematik kann Gegenstand künstlerischer Darstellung sein. Wenn das Portrait eines Gesichtes mit einem anderen Gesicht verwechselt wird, besitzt es eine unzureichende Menge an zweckgebundener Form, wie jene des Athleten, der philosophiert, während er um den Wettlauf kämpft. Eine für ihren Zweck quantitativ unzureichende Form ist in ästhetischer Hinsicht nicht schön. Ein Kunstwerk kann also schöne Formen aufweisen, aber nicht das Schöne als „Art“ enthalten. Auch wenn man von der Darstellung der spezifischen somatischen Zügen eines Individuums ausgeht, hat ein Gesicht in der Darstellung der genetischen Merkmale einer genetischen Gruppe sein eigenes Subjekt und daher die Möglichkeit einer darstellenden Perfektion, die nicht an die Darstellung eines bestimmten Individuums gebunden ist. In dieser konsequenten Analogie und Anhaftung der darstellenden bzw. künstlerischen Form an die genetische Form liegt die Schönheit einer künstlerischen Form. Perfektion kann außerdem in der Darstellung von Gebrauchsgegenständen sein. Diese Perfektion wird stets in Bezug auf die Analogie ihres Modells und zwar auf den Dienst, den der Gebrauchsgegenstand erweist, bewertet und da der Gebrauch, d.h. die zweckgebundene Funktion eines Gebrauchsgegenstands dessen Inhalt ist, steigt er zum Inhalt der Darstellung empor. So ist die Schönheit auch in der Perfektion des Gebrauchsgegenstandes selbst und nicht nur in seiner Darstellung zu finden. Ist die Form eines Gebrauchsgegenstandes in Bezug auf seinen Zweck perfekt, so ist sie im Vergleich zu einer anderen schön, die ihrem Zweck nicht perfekt entspricht.

Herr Hegel, ich glaube, aus Ihren Vorlesungen eine erfaßt zu haben, die mich zwingt, Ihre Doktrin zu stürzen, um mich in der logischen Folgerichtigkeit beruhigen zu können. Zwei von Ihnen aufgeworfene banale Behauptungen konnte ich übrigens nicht ertragen. Erstens, die Annullierung durch Einigung von zwei so genannten Gegenteilen, der Form und des Inhaltes, d.h. der Überwindung des „Kampfes des Geistes gegen das Fleisch“ (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Suhrkamp 1999, S. 80). Sie schlagen eine Reinigung der „äußerlichen“ Form vor, als ob diese, mit Geist geschminkt, innerlich werden würde. Sie denken, daß ein Porträt perfekt gemalt sein kann, ohne den Geist des portraitierten Gesichtes zu erfassen. Aber wenn ein Porträt den Geist nicht erfaßt, erfaßt es das Gesicht des Geistes nicht und daher ist dieses Porträt nicht perfekt gemalt.

Die nicht Sachkundigen halten vielleicht eine auf der Oberfläche fein geglättete Malerei für gut und denken also genauso wie Sie, wobei Sie, laut Ihren Aussagen, von Kunst überhaupt keine Ahnung hatten. Solche Leute denken, das Geglättete sei schwierig auszuführen, und insofern halten es für künstlerisch.

Auch Platon endet den Dialog des Hippias, in dem das Problem des Schönen behandelt wird, mit den Worten, das Schöne sei schwierig. Im Gegenteil dachte Leonardo da Vinci, der von Kunst sicherlich viel verstand, die Kunst sei ein gemäßigtes Verfahren und eventuelle Schwierigkeiten, wenn überhaupt vorhanden, dürften im Kunstwerk nicht zu sehen sein, genauso wenig wie die körperlichen Mühen, die der Künstler bei dessen Ausführung gelegentlich auf sich nehmen müßte. Michelangelo zerstörte die Zeichnungen zur Vorbereitung seiner Werke, damit man die Mühe, die er aufgewandt hatte, um das Kunstwerk schaffen zu können, nie zu sehen bekäme. Hätte er gedacht, das Schöne sei schwierig, hätte er sich nicht geschämt, sei es auch aus Unbescheidenheit, Mühen auf sich genommen zu haben, um es zu erreichen. Was schwierig ist, verursacht nämlich keinen Genuß und daher würde in diesem Fall der platonische Genießer, falls er aus dem Schwierigen keinen Genuß erhalten sollte, gegen die Meinung des Meisters denken, das Schöne sei kinderleicht und gar nicht schwierig. Leicht ist es jedoch sicherlich nicht. Das Einfache ist nämlich nicht projektmäßig, es ist nicht aktiv, sondern retroaktiv, sodaß das Schöne mir spontan, aber nicht schwierig erscheint, auch wenn es nicht einfach ist. Man müßte die Bienen fragen, ob ihr Bienenstock schwierig zu bauen ist. Die Bienen bauen ihren Bienenstock wie Phidias den Parthenon: aus Bedürfnis. Was andere, die nicht das gleiche Bedürfnis spüren, schwierig finden, wird durch das Bedürfnis spontan. Phidias hätte schwierig gefunden, einen Bienenstock zu bauen. Und nun zurück zu uns, wenn es der Zweck ist, eine Oberfläche zu glätten, dann ist eine gut geglättete Oberfläche künstlerisch. Aber die Kunst der Darstellung des Geistes, d.h. der physischen Formen ist nicht die Kunst, eine Oberfläche zu glätten. Ein nur gut geglättetes Porträt ist also nicht unbedingt auch gut gemalt. Lieber Herr Professor, ich verstehe Sie: Zur Zeit ihres sterblichen Lebens, Anfang des 19. Jahrhunderts, blühten viele kleine Künstler, die wie Sie an das „Geglättete“ glaubten und wie Sie dachten, die künstlerische Perfektion liege im perfekten „Polieren“ der Farbpaste. Da Sie jedoch irgendwie ahnten, daß es nicht ganz so war, forderten Sie daher einen Inhalt, der sich dem Geglätteten entgegenstellte, und den Sie „technisch in ihrer bestimmten Sphäre vollendete Form“ nannten. Ich denke, daß Sie sich mit technisch vollendeter Form auf das Geglättete bezogen, denn ansonsten heißt es, daß Sie leichten Herzens sozusagen das Mehl von enormen Widersprüchen mahlten, die Sie dann verarbeiteten und als perfekte Kringel auftischten. Klar ist es auf jeden Fall, daß Ihr Philosophieren über die  Kunst nur ein vergebliches Abmühen in einem Ihnen unbekannten Gebiet war. Um über ein Handwerk zu sprechen, muß man dieses Handwerk zumindest ein wenig beherrschen. Ich verwechsle dabei sicherlich nicht das Handwerk mit der Vortrefflichkeit des Handwerks, denn wie wohl alle wissen, ist das Handwerk eine Gattung und die Kunst jenes Handwerks ist das Niveau des Handwerks, das ebenso hoch wie niedrig sein kann, bis es im Handwerk der Philosophie des Handwerks, verzeihen Sie mir, bis es im Schwätzen über die Ästhetik verschwindet, wie Sie und viele Ihrer noch lebenden Anhänger getan haben. Lieber Herr Professor, trennen Sie die Form der Kunst nicht von den Inhalten des „Geistes“. Allerhöchstens trennen Sie diese vom geglätteten Anstrich.

Ihre Theorie der Trennung der Form von den Inhalten hat unermeßliche Schäden verursacht. Je mehr die Thematik als Inhalt der Kunst betrachtet wurde, desto mehr zwang sie sich der Form auf, bis sie schließlich von der Moralphilosophie einverleibt wurde, in dem Glauben, somit die Kunstform in den Tod zu führen. Die Kunst verlor ihre Zeitlosigkeit, bis die kontingente rein politische Erklärung der Entscheidung ob links oder rechts je nach Orientierung Ihrer Schulen als Kunst ausgegeben wurde. Künstlerisch wurde das rein soziale Verhalten und nicht ein perfekter Gegenstand. So kommt es heute vor, daß Künstler ein Kommunist ist, weil er kein Faschist ist, ebenso wie ein Frömmler, weil er kein Pfaffenhasser ist. Setzt jemand die Häuser auf der rechten Straßenseite in Brand, ist er ein linker Künstler, der Kunstwerke schafft, da er die „höchsten Interessen des Geistes“ ins Bewußtsein ruft, wer aber die Häuser auf der linken Straßenseite in Brand setzt, ist ein rechter Künstler, der ebenso Kunstwerke schafft, da er die höchsten Interessen des Geistes ins Bewußtsein ruft. Es heißt, Athleten, die Wettkämpfe gewinnen oder Maler, die ein schönes Bild malen, seien überholt, weil sie sich im „Zufälligen“, d. h. in der Form, wie Sie sagten, verlieren und sich nicht dafür einsetzen, die „höchsten Interessen des Geistes“ ins Bewußtsein zu rufen. Diesen Künstlern klopft man allerhöchstens auf die Schulter, um sie zu ermuntern, lobenswert weiterzumachen. Der Athlet soll weiter siegen, wenn er jedoch verliert, ist es egal. Denn wert ist nicht der Sieg, sondern die Teilnahme an einem Wettkampf, wie man gewöhnlich sagt. Aber diese Lehrer der „reinen“ Kunst, die den ersten vom letzten Athleten nicht unterscheiden, merken nicht, daß die Teilnahme an einem Wettkampf ohne Sieger und Besiegte gleichbedeutend wie das Mästen der Schweine ist. Auf diese Weise ist alles gleichzeitig gut und schlecht.

Glauben Sie mir, lieber Herr Professor, heute befinden wir uns alle im Mist, denn die Kunstform wurde für die „höheren Interessen des Geistes“ aufgegeben, so daß wir uns ohne Interessen befinden und der „Geist“ nur der der Skeptiker ist. Ohne sinnliche Figuration wird kein Wettkampf mehr ausgetragen, alles wird miteinander vermischt, auch das Gute und das Böse vereinheitlichen sich und so wachsen verweichlichte Kinder ohne Rückgrat auf, welchen alles erlaubt ist, auch aus Vergnügen auf Passanten zu schießen und später an einer Überdosis zu sterben. Lieber Herr Professor, trennen Sie die Form nicht vom Inhalt. Die Form ist der Inhalt. Sie dachten, der Inhalt gehöre dem Verstand und nicht dem „Fleisch“ an, denn Sie wußten nicht, daß das Gehirn die gesamte Projektmäßigkeit des Fleisches darstellt. Sie dachten, die Projektmäßigkeit sei der finalistische Befehl des Verstandes und die Sinne ein billiger Mechanismus der Ausführung, wenn sie nicht gerade ein Hindernis waren. Sie dachten, das „Fleisch“ sei nicht der Verstand selbst, weil es nicht im Encephalon war. Nicht nur ist das Fleisch wohl im Encephalon, sondern es ist die Projektmäßigkeit des Encephalons, die vom Bedürfnis des Fleisches bestimmt ist, wie Moruzzis Experiment beweist. Heute entdeckt man, daß die Idee der wirklichen Form die einzige Wirklichkeit ist, die das Encephalon besitzt, sodaß Gehirn und Verstand aufgrund ihrer gemeinsamen Zweckmäßigkeit sogar zu Synonymen werden. Andernfalls wäre der Verstand nicht die Funktion des Gehirns, was sich als unwahrhaft erwiesen hat. Also enthält das formelle Bild seinen Geist nicht, sondern es ist selbst Geist, ansonsten wäre die Projektmäßigkeit eines denkenden Wesens vor dem Wesen selbst und alles wäre vorherbestimmt. Wir verweigern jedoch hier die Existenz einer auch nur minimalen Vorherbestimmung, da wir klar die Existenz der Freiheit sehen.

Um Ihrer Vorlesung über die Zufälligkeit der Form der Natur Folge zu leisten und zu größerer Ehre des „Inhaltes“ hat nun jemand im Kunstwerk die analogische Gestalt der Wirklichkeit mit der fotografischen Nachbildung der Gestalt der Wirklichkeit ersetzt.

Sie müssen wissen, daß etwa hundert Jahre nach Ihrem Tod ein Gerät erfunden wurde, welches in der Lage war, auf einem Bogen Papier die Bilder der Natur festzuhalten, genau wie das Gehirn mittels der Augen und der Hand auf dem Papier macht. Dieses Bild, Fotografie genannt, bezieht sich auf einen Sekundenbruchteil der werdenden Wirklichkeit. Diese Leute verwenden die Fotografien, um die „höheren Interessen des Geistes“ zu offenbaren, die wir hier, in Anbetracht der Entwicklung der Dinge, ruhig als politische Ideologien zugunsten der Zeiten bezeichnen können. Es entspricht der Wahrheit, daß eine Fotografie wie ein Kunstwerk die Finalität der Thematik besitzen kann, jedoch ist das Kunstwerk nicht ihre Thematik, sondern das Wie, das, wie wir gesehen haben, dem formellen „Wieviel“ entspricht, das die Thematik verdeutlicht. In der Fotografie wird eine dem Willen des Künstlers voranstehende Gestalt wiedergegeben. Die Kunst hingegen bringt über die Thematik hinaus eine neue Form hervor. Die Fotografie der Natur ist wie die Natur im Spiegel. Heute weiß man, daß die Augen des Gehirns jede Sekunde Millionen von Fotografien schießen und daß die Projektmäßigkeit des Gehirns nur jene Bilder verwendet, die es für konstruktiv oder für das Projekt nützlich hält. Wie Sie wohl verstanden haben, ist eine einzige mechanische Fotografie im Vergleich zu einem Werk, das der zweckgebundenen Auswahl von Millionen von zerebralen Bildern entspringt, künstlerisch wirklich dürftig. Die analogische oder künstlerische Form ist eine neue persönliche Form. Der Inhalt des fotografischen Werks ist schließlich die Predigt der Thematik, jene Predigt, die Sie als Inhalt der Kunst haben betrachten lassen und heute jedoch als das, was sie wirklich ist, erscheint.

Dasselbe gilt für die mit Hilfe des „Computers“ vorgenommene Montagekonstruktion. Der Computer ermöglicht die effiziente Ausführung einer Thematik mit einer im voraus gebildeten oder vorgefertigten, dem Willen des Künstlers vorangehenden Form. Die Themenausführungen am Computer besitzen keine der Freiheit des Künstlers entsprungene Form. Wenn man mit der „Maus“ eine Form zeichnen möchte, würde man genauso wie mit dem Bleistift vorgehen. Mit dem Unterschied, daß der Bleistift sich besser von der Hand führen läßt und die Hand ist der Verstand selbst. Die „Maus“ als Ersatzgerät für den Bleistift und für die Hand ist eine Verschlechterung der Fähigkeit, die Idee des Gehirns zu übertragen.

Die von einem geistig manuellen Künstler vorgenommene Konstruktion der analogischen Form kann in der Darstellung die Form der Natur verwandeln. Mit ihrer Analogie ist die künstlerische Form eine neue Natur. Sie ist wie die Natur: unwiederholbar, also wahre geistige Substanz. Die Montage erscheint hingegen ohne formelle Einheit, aber einheitlich nur in der thematischen Ausführung. Sie müßten diesen komplizierten Mechanismus sehen, der für einige auf Zeitersparnis ausgerichtete Leistungen äußerst nützlich ist. Der „Computer“ ist wie ein unbeweglicher Speicher von unbeweglichen Bildern, in dem Rückgut zu suchen ist, um es der Konstruktion der thematischen Idee anzupassen. Der Computerfachmann, der vom Computer die Formen abnimmt, besitzt selbst nicht die Idee der Form, die er für seine Thematik entnimmt. Die Idee dieser Form ist auf den Fachmann zurückzuführen, der sie in den Computer eingespeichert hat. Und eine bereits vollendete Form zu finden, bedeutet, dann nicht in der Lage zu sein, sie selbstständig zu erwägen. Sie werden nun wohl die Folgen verstehen, die Zentralität der Form zugunsten eines imaginären Geistes bzw. eines reinen Inhalts aufgehoben zu haben. Von Ihrem Geist oder reinen Inhalt blieb nur die reine soziale Thematik von kurzer historischer Dauer und mit kurzer kurzlebiger Zweckbenutzung. Es blieb die Unfähigkeit, eine Form und daher einen künstlerischen Inhalt zu denken.

Die zweite Banalität drücken Sie folgendermaßen aus: „Das Kunstwerk sei kein Naturprodukt, sondern durch menschliche Tätigkeit zuwege gebracht“ (Hegel, ibidem,  S. 44).

Sie wollen, daß die menschliche Tätigkeit nicht natürlich sei, so ist es für Sie natürlich, daß auch der Mensch nicht natürlich sei. Gibt es vielleicht eine nicht natürliche menschliche Wirklichkeit? Wenn Sie wollen, daß die Kunst nicht natürlich sei, soll sie nicht wahrnehmbar sein. Warum also schreiben Sie wahrnehmbare Worte, wenn Sie denken, daß der Gegenstand Ihrer Worte nicht wahrnehmbar ist. Sie haben Dinge gepredigt, die nicht gepredigt werden können. Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, liefern uns die Neurowissenschaften heutzutage den Beweis, daß keine Erkenntnis über den sinnlichen natürlichen Gegenstand hinausgehen kann. Die Schlußfolgerungen aus Voraussetzungen, wenn diese wahr sind, d.h. sinnliche Wahrheiten, verdeutlichen also formell, was bereits in den Voraussetzungen enthalten war. Und da ja unser zentrales Nervensystem das Ergebnis einer Entwicklung ist, die mit der Entstehung eines ersten Moleküls und eines Einzellerorganismus vor Milliarden von Jahren ihren Anfang nahm, muß die individuelle Freiheit unserer Ahnenzellen der Ausgangspunkt unseres derzeitigen zentralen Nervensystems sein.  Johann Friedrich Meckel sagt, „das höhere Tier geht während seiner Entwicklung durch die permanenten organischen Stufen seiner niederen Arten“ (Changeux, Ragione e Piacere, Cortina, S. 129).

Die Gestalt der mentalen Darstellung muß also von der sinnlichen und zweckgebundenen Gestalt der Natur modelliert sein, wie das Experiment Moruzzis beweist.  Auch muß unsere erste Ahnenzelle die ästhetische Fähigkeit besessen haben, für sich selbst das Beste zu erkennen und auszuwählen und das Schlechteste abzulehnen. Ohne die Entscheidungsfreiheit und -fähigkeit unserer ersten Ahnenzellen wäre unsere derzeitige Entscheidungsfreiheit unmöglich gewesen.

So besteht zwischen dem genetischen Geist, den Sie „Fleisch“ heißen und der projektmäßigen Freiheit des derzeitigen Individuums, die Sie „Geist“ heißen, kein Kampf, sondern Identität der Aufbauarbeit, die vom Individuum bis zur Art reicht, ausgehend vom ersten Molekül bis hin zum voll entwickelten Menschen. „Wir bewahren in unserem Gehirn den materiellen Abdruck unserer Ahnenfische auf, die etwa vor dreihundert Millionen Jahren lebten, und vielleicht auch von primitiven noch älteren Würmern“ (Changeux, ibidem, S. 147).

Das Gedächtnis der Erfahrungen, die wir durch ein ästhetisches Urteil für nützlich halten, dient als Modell und Ausgangspunkt für neue Erkenntnisse. „Diese außergewöhnliche Fähigkeit des menschlichen Gehirns, mentale Vorstellungen zu erzeugen und zu beurteilen, sie zu übertragen und zu speichern, ermöglicht die Verbreitung und die Verewigung der Vorstellungen von einer Generation zur anderen“ (Changeux, ibidem, S. 156).

Viele denken, dieses Gedächtnis der Erfahrungen sei unfähig, das Erbgut zu verändern. Wenn sich jedoch die Lebensformen in logischer Weise durch die Erfahrung fortentwickeln, muß das Gedächtnis der Erfahrungen die Quelle der genetischen Kodifizierung sein. Andernfalls wären die Erfahrungen nutzlos. Man darf nicht glauben, eine konsequent logische Entwicklung sei dem Zufall zuzuschreiben, der weder progressiv noch logisch, sondern gelegentlich und umkehrbar ist. Es steht fest, daß gezähmte Tiere im Vergleich zu Exemplaren in freier Wildbahn im Laufe von Tausenden von Jahrhunderten deutliche Veränderungen der Knochen und der Muskelstruktur erfahren haben. Wenn nun von zwei Tieren mit demselben genetischen Ausgangspunkt eines sein Umfeld wechselt und sich dabei verändert, heißt es, daß seine Struktur durch die Anpassung an das neue Umfeld und nicht durch Zufall geändert wird. Eine im Voraus geplante Evolution ist heute für uns nicht akzeptabel, sie ist das Ergebnis einer gegenseitigen zeitgemäßen Anpassung aus Bedürfnis der Individuen und der von den Individuen gebildeten Umwelt. Das Gedächtnis der Erfahrungen muß daher die Quelle der Beschlüße des Umweltverhaltens sein, die die Art und folglich das Gen in den Zeiten und in den Weisen entwickeln, die wiederum für eigenes Bedürfnis von der Entwicklung ausgesucht sind. „Im Gehirn verknüpfen sich in außergewöhnlicher Weise drei Entwicklungen, die der Art, die der Individuen und die der Kulturen“ (Changeux, ibidem, S. 6).

Vittorino Andreoli erklärt, daß das Encephalon die Möglichkeit „einer eigenen Veränderlichkeit aufgrund von äußerlichen Reizen und daher der Erfahrung“ hat (La norma e la scelta, Mondadori 1984, S. 19). Wenn strukturelle, von der derzeitigen Erfahrung verursachte Änderungen des Encephalons nun zur Zeit möglich sind, ist es ebenso zu vermuten möglich, daß die gesamte Struktur des Encephalons sich durch die vergangene Erfahrung gebildet habe. Wenn man bedenkt, daß sich die ersten Lebensformen unserer Ahnen ohne Encephalon abwickelten, muß das Encephalon notwendigerweise das Endresultat, wenn auch nicht das letzte, einer Erkenntnistätigkeit sein, die vom Zusammenschluß in einem Organismus der ersten Zellen, wenn nicht gerade der ersten Moleküle, ausgegangen ist. Die Erbanlagen müssen also ebenfalls das End- und nicht das letzte Ergebnis einer Umwandlung sein, die vom ersten Zusammenschluß in einem Organismus primitiver Lebenselemente am Anfang ihrer Erkenntniserfahrung ausgegangen ist.

Ich glaube, Sie werden wohl die Informationen der modernen Wissenschaftswelt berücksichtigen und solche Hypothesen in Betracht ziehen. Sodaß Sie schließlich nicht mehr denken können, der Geist sei nicht der Körper. Sodaß Sie denken können, der Geist entwickle sich, da er Körper ist. Würde der Geist sich nicht entwickeln, hätte unsere erste Ahnenzelle unseren eigenen derzeitigen Geist besitzen müssen, aber es ist vernünftig, daß jeder Körper sein eigener Geist sei, obgleich er eine mit dem Rest der Welt gemeinsame Seele habe.

Und nun werden Sie mich wohl fragen, was Seele ist, wenn der Geist Körper ist. Mit dieser Frage werden Sie mutmaßen, daß ich die Existenz des Geistes leugne und daß es auch keine Seele existiert, wenn der Geist nicht existiert.

Ich möchte die Seele als das Bedürfnis nach der physischen oder geistigen Effizienz definieren, jedoch nicht als den Geist bestimmende Ursache, wie Sie möchten. Sie beschreiben die Seele als das, was die zweckgebundene Bewegung der Körperteile koordiniert. Diese nicht „zufällige“ Bewegung (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Suhrkamp 1999, S. 167) leugnen Sie den Tieren, die nur willkürliche, nicht im Einklang mit Gesetzen stehende Bewegungen hätten. Die Besonderheit der Seele ist für Sie die Bestimmtheit der bewußten Bewegung. Aber Sie lassen eine wichtige Eigenschaft der Bewegung außer Acht, nämlich ihre kontinuierliche finalistische Effizienz auch nach dem Tode des bewußten Körpers und der Teile, aus denen er besteht. Es kann nicht anders sein, denn zu Ihrer Zeit kannte man die Bewegung der Atome und derer Teilchen noch nicht. Zweck dieser Bewegung ist das Leben im Allgemeinen, sie enthüllt eine großartige Effizienz, die auf die Schaffung von anderen bewußten und unbewußten Leben koordiniert ist. Diese Effizienz kann nicht persönlich sein, auch wenn das Individuum als Geist diese Effizienz persönlich finalisiert. Könnte sich das Individuum selbst die Effizienz verleihen, wäre es unsterblich. Die Effizienz der Bewegung ist also auf ein Seiendes zurückzuführen, das das Individuum transzendiert und das ich Seele oder Primärbedürfnis der Existenz nennen würde. Die finalisierte Koordination der Bewegung würde ich hingegen dem Geist zuschreiben, d. h. dem finalistischen Körper jedes Individuums. Würde die Seele die Bewegung des Körpers bestimmen, wie Sie sagen, dann hätte sie ein Verhältnis zum Körper derselben Natur. Sie wäre nicht nur spezifisch jenes Körpers, sondern hätte sie auch ein Entwicklungsverhältnis zum Körper, wobei sie jegliche Transzendenz zum Körper verlieren würde. Da die Seele jedoch nur das Bedürfnis nach Effizienz des Körpers ist, ist ihre Transzendenz zum Körper unbedingt erforderlich. Anhand dieser Unterscheidung wird die simultane Anwesenheit eines unsterblichen Seienden in der Wirklichkeit als Bedürfnis nach der Effizienz des Sterblichen verständlich und die Seele wird als Bedürfnis des projektmäßigen Körpers, d.h. des Geistes, erforderlich.

Sie sagen, die Symmetrie der Kristalle sei darauf zurückzuführen, daß ihnen die Seele fehlt. Dies erklärt, welche Auffassung Sie von der Seele haben. Sie schreiben, „in dem Auge konzentriert sich die Seele“, das Auge, „welches der Sitz der Seele ist“ (Hegel, ibidem, S. 203 ) und noch: „Die edleren Eingeweide sind die inneren, Leber, Herz, Lunge“ (Hegel, ibidem, S. 184).

Sie haben eine sterbliche Auffassung von der Seele, wie es sich nur dem Körper, besser gesagt dem Geist in seiner Einzigartigkeit und projektmäßigen Unwiederholbarkeit gehört. Die Seele hingegen enthüllt sich uns als das Bedürfnis nach der Effizienz des Projektes. Daher transzendiert sie das Projekt jedes Lebewesens, also auch jeden Geist. Da also der Beweggrund universell ist, ist er kein persönliches Vermögen, sondern nur ein persönlicher Besitz, wie ich Ihnen bereits gesagt habe. Die Seele ist das Bedürfnis des Geistes, d.h. des Körpers. Die Seele eines Heiligen ist diegleich wie die eines gemeinen Menschen. Sie ist der Grund der Effizienz der Existenz. Sie ist die Spannung, die uns ermöglicht, unser genetisches Leben frei zu bilden. Die Seele ist also Gott selbst, wie der Geist des Menschen der Mensch selbst ist. So erscheint mir die Seele als ein Wesen, das den Körper nur umwandelt und ihn nicht verlassen kann. Zwischen der göttlichen Seele und dem Geist des Menschen und jedes projektmäßigen Seins, einschließlich der Kristalle und der Elementarteilchen, kann es keinen Vermittler und kein Hindernis, daher weder Konflikt noch Vereinbarung geben, denn das Lebewesen besitzt das Bedürfnis seiner Effizienz, die es transzendiert. So ist die göttliche Seele von der Natur besessen, da die Natur existiert und der Tod Gottes ist nur eine unsinnige Aussage, die ihre Anwesenheit bestätigt.

Solange die Lebewesen also aufgrund ihres Bedürfnisses als künstlerische Gestalt, d.h. als Geist leben werden, wird für sie kein Gegensatz zum Körper bestehen. Die genetische Form erscheint mir daher als die Form des Geistes der Art, sie erscheint mir als Kunstwerk, effizient aufgrund ihres Bedürfnisses und, wie bereits gesagt, im vorläufigen Besitz der Seele. Wegen der von Ihnen angebrachten vorgeschobenen Gründe wird die Kunst sicherlich nicht sterben. „Die Innerlichkeit feiert ihren Triumph über das Äußere“ nicht „und läßt im Äußeren selbst und an demselben einen Sieg“ nicht „erscheinen, durch welchen das sinnlich Erscheinende zur Wertlosigkeit herniedersinkt“ (Hegel, ibidem, S. 113).

Die moderne Wissenschaft hat die Unterscheidung zwischen Innen und Außen, zwischen der Innerlichkeit und der Äußerlichkeit aufgehoben und dem Sinnlichen den ganzen Wert zurückgegeben, den Sie ihm weggenommen hatten. Damit sind der Tod der Kunst und der Tod Gottes besiegt. Die Kunst könnte sterben, wenn die Seele sterben würde. Aber der Tod der Seele würde die Existenz über die Energie hinaus auslöschen und das scheint mir unmöglich. Sehr verehrter Herr Professor, ich fülle das Tintenfaß nach, aber das Papier brauche ich, um sinnliche Figuren zu zeichnen und daher will ich mich darüber nicht zu viel verbreiten. Schließlich will ich Ihnen jedoch unbedingt noch etwas sagen. Es betrifft das traurige, Ihnen ebenfalls bekannte Ereignis, das aber mit einer korrekten Interpretation einen anderen Wert gewinnt. Scheinbar erließ der byzantinischer Kaiser Leo III. im siebten Jahrhundert des christlichen Zeitalters sein berühmtes Verbot der christlichen Bilderverehrung nicht aus Gutgläubigkeit. Tausend Jahre vor Ihnen dachte dieser Leo wie Sie, spielte jedoch vor, die Bilder wären das „Fleisch“ im Kampf gegen den Geist. Er hätte mit Ihren genauen Worten schreiben können, „daß die Kunst dennoch weder dem Inhalte noch der Form nach die höchste und absolute Weise sei, dem Geiste seine wahrhaften Interessen zum Bewußtsein zu bringen“ (Hegel, ibidem, S. 23), wobei seine Geistesinteressen jedoch die kaiserlichen waren. Sie wurden vom christlichen Mönchstum der klassischen Kultur beanstandet und um die politische Opposition zu treffen, versuchte er, wie das so üblich ist, die Kultur des Gegners zu treffen.

Der von Leo III. herbeigesehnte Tod der Kunst ist der von Ihnen theoretisierte Tod. Aber ein Philosoph darf sich nicht wie ein Kaiser vortäuschen und darf auch nicht zulassen, daß jemand ihn auf den Widerspruch hinweist, in welchen er sich verwickelt hat, so wie Sie sich verwickelt haben, als Sie der Figur mit einer figurativen Sprache Wert entzogen haben. Wenn wir miteinander sprechen würden und unsere Worte nicht figurativ wären, würden wir uns nicht verstehen. Ohne die wahren Gründe des antiken Bildersturms zu kennen, versteht man auf Anhieb nicht, warum die Bilder die Zielscheibe Leos III. gewesen sind und warum ein Denker wie Sie den Widerspruch bei der Theoretisierung der Unmacht der Figur, den Geist mit einer unaufhörlichen Serie von formell figurativen Urteilen darzustellen, die also nach Ihrer eigenen Theorie sofort selbstmörderisch sind, nicht enthüllt hat. Streng genommen sollte der antike Bildersturm auch Schriften und Gespräche sowie die figurativen kaiserlichen Erlasse treffen und Sie, Herr Professor, hätten schweigen müssen und Ihre figurativen antifigurativen Vorlesungen nicht abhalten dürfen. Die heutigen informalistischen Künstler sind konsequenter als Sie und wenn sie aus Ihrer Lehre die logischen Schlußfolgerungen ziehen, erzeugen sie keinen Gegenstand mehr, denn auch eine weiße Leinwand, die zuvor mit figurativen Worten zum Symbol der nicht figurativen Theorie erhoben wurde, spricht durch das eigene Schweigen die figurative Sprache Ihrer Theorie. Eine weiße Leinwand ist an sich künstlerisch gesehen nichts, indem sie jedoch mit ihrem Nichtfigurativsein die Verneinung des Figurativen behauptet, wird sie zur vielsagenden und figurativen Botschaft Ihrer nicht figurativen Philosophie. Damit also die weiße Leinwand der figurativen Sprache, die sie erklärt, nicht unterliegen muß, ist sie wegen jener Folgerichtigkeit, die Ihnen fehlte, abgefallen.

Den Historikern zufolge betrachten die Schinder die Verbreitung der Kultur nicht mit Wohlwollen und um ihr niederträchtiges Ziel, über die anderen zu herrschen, zu verheimlichen, denken sie sich künstliche Probleme aus. Das herkömmliche, vom Tyrannen ausgeklügelte Argument behauptet, Gott sei nicht darstellbar, was alle wissen, auch die tückisch figurativen Künstler. Und da Gott nicht darstellbar ist, schlußfolgert der Tyrann, daß auch alles, was den von Gott ausgeströmten Geist anbetrifft, nicht darstellbar sein kann. Von Ihrem hohem Universitätsstuhl herab dozieren Sie genau wie der Kaiser des Bildersturms und schreiben zum künftigen Verfall der Kunst, daß „Gott als Geist nun auch auf höhere, dem Gedanken entsprechendere Weise gewußt“ ist, „womit sich zugleich hervorgetan, daß die Manifestation der Wahrheit in sinnlicher Form dem Geiste nicht wahrhaft angemessen sei“ (Hegel, ibidem, S. 144).

Diese Schlußfolgerung können nur Redner ziehen, Künstler weisen sie jedoch zurück. Da jede Erkenntnis sich durch ein Bild oder eine Figur verwirklicht und jede mentale Gestalt durch Bilder bestimmt ist, muß auch ihre Übertragung figurativ, d.h. gemäß ihrem Bilde strukturiert sein. Der christlichen Lehre zufolge wurde Gott zum Menschen und ich glaube nur symbolisch, um mit den Menschen in Verbindung zu kommen: „In der ewigen Erinnerung an das Leben im Fleische unseres Herrn Jesu Christi haben wir die Tradition erhalten, Ihn in seiner Menschenfigur darzustellen und somit die Selbstdemut des Wortes Gottes zu verherrlichen“ (Germanus, 8. Jh.). Welcher Hochmut wird aber in Wirklichkeit jenem Philosophen oder jenem Künstler zugeschrieben, der sich vom „Fleische“ trennt? Vielleicht der wildeste, denn er muß sein eigenes Fleisch verleugnen, welches, zu nichts gebracht, an die Existenz Gottes, d.h. an das Primärbedürfnis der Existenz nicht denken kann. Die Zerstörung der Bilder ist daher auch die Zerstörung der Erkenntnis und ohne Erkenntnis kann es keine vernünftige Vorstellung von Gott geben. Dies beschuldigt selbstverständlich Ihren Lehrstuhl des Obskurantismus. Wir stehen der Erkenntnis offen, also betrachten wir als wissenschaftlich korrekt die Grundlage der antiken Scholastik mit der Behauptung, im Verstand sei nichts, das nicht schon zuvor in den Sinnen gewesen sei. Der Logik und den wissenschaftlichen Beweisen zufolge denken wir, daß was zuvor in den Sinnen war, im Verstand die Form der Sinne besitzt.

Die so genannten reinen Begriffe sind nicht schildbar, d.h. sie sind nicht darstellbar. Wenn die Begriffe, wie der Begriff des reinen Raumes, die als unabhängig von der empirischen Erfahrung erklärt sind, sich laut der kantischen, von Ihnen bei dieser Grundlage akzeptierten Lehre der figurativen Vorstellung nicht unterordnen können, ist es einfach darum, weil sie nicht existieren. In welchen sündigen Widerspruch verwickelt sich ein Christ, der glaubt, der Tod der Kunst sei möglich, wenn dieser der Tod Gottes ist? Für wen nahm Jesus das Martyrium als Mensch auf sich? Warum ist der Körper Jesu vom Tod auferstanden, wenn der Körper jenes gemeine von Herrn Hegel so verachtete Hindernis ist? Vielleicht für die Christen, die die Existenz Gottes abstreiten. Die christliche Kirche soll eine sorgfältige Analyse der Gründe einer nicht ikonischen Kunst durchführen und erklären, ob sie christlich oder ketzerisch ist.

Nur schwer akzeptieren wohl die Nostalgiker der regressiven Welt des Bildersturms, daß ihr ganzes Denken ein Produkt sei, welches auf die Neuronenorganisation folgt, auch wenn es ihnen gesagt wird, daß diese von der göttlichen Effizienz angetrieben ist. Der wissenschaftliche Realismus erschreckt sie, denn sie sind arm im Geist und ihre Gewißheit in der Notwendigkeit Gottes ist schwach. In ihnen ist auch logische Schwäche und Charakterschwäche. Schüchtern unterwerfen Sie sich jedem, der auf die Kanzel steigt und merken die doch auffälligen Widersprüche in Lehren wie Ihrer, hochwürdiger Lehrer, nicht. Fatal ist die Schwäche, die eine Unterscheidung der effizienten Dinge vom Bedürfnis ihrer Effizienz verhindert. Diese Schwäche verursacht die Schwierigkeit, simultan Gott und die Freiheit der Lebewesen koexistieren zu lassen. Diese Angst kommt daher, daß man den Begriff des Vor von dem der Priorität nicht unterscheidet.

Mir scheint, daß Gott nicht der Schöpfer, d.h. das Vor und die Ursache der Geschöpfe sein kann, anderenfalls wäre er der Schöpfer dessen gewesen, was er vor der Zeit noch nicht geschaffen hatte, daher ist es notwendig, daß die Freiheit unserer Effizienz nicht auf das Bedürfnis nach Existenz folgt, sondern gleichzeitig dazu ist. Man kann sagen, daß das Bedürfnis nach unserer Effizienz eben die Anwesenheit Gottes in uns ist. Also kann Gott kein Vor im Hinblick auf die effizienten Dinge haben, denn in jenem Vor wäre er die effiziente Ursache dessen gewesen, was noch nicht effizient war, denn es existierte noch nicht. Also hat Gott unseren Plan nicht vorbestimmt. Aber auch Ihre Priorität ist nichts Edleres im Vergleich zu dem, was keine Priorität besitzt, denn es ist unbegreiflich, daß diese Erhabenheit oder Priorität die Effizienz ihres Mangels sei. Gott kann also nichts schaffen, er kann weder etwas ihm Unterlegenes noch ihm nur Ähnelndes schaffen, da der Fall eines Aktes Gottes, den er nicht seit jeher und nicht mit gleicher Würde im Vergleich zu seiner Macht vollzogen habe, anwidert. Damit will ich sagen, daß das Bedürfnis nach der Effizienz der Dinge in der Zeit nicht größer sein kann, als es seit immer gewesen ist. Genauer gesagt, wenn man behauptet, daß Gott die Welt geschaffen hat, muß man auch zugeben, daß Gott vor der Schöpfung am Schöpfungsakt potentiell anwesend war. Aber der Übergang von potentiell auf den Akt bedeutet „werden“ Von der Macht zum Akt überzugehen bedeutet jedoch „zu werden“ und Gott kann dem Werden nicht unterworfen sein, also kann Gott der Schöpfer der Welt nicht sein.

Um vertreten zu können, daß Gott der Schöpfer der Welt ist und um ihn gleichzeitig dem zeitlichen Werden zu entziehen, behauptet man, daß auch die Zeit von Gott, abgesehen von der Zeit, geschaffen wurde, was bedeutet, Gott in der Ewigkeit auszudenken und dabei zu erklären, daß die Ewigkeit nicht die Totalität der Zeit ist, sondern daß jede Existenz in der Ewigkeit verschwindet. Auch die Existenz Gottes verschwindet. Herr Professor, Sie als geschickter Spieler der Logik, sagen Sie mir, ob man über die Einfachheit eines nicht existierenden Begriffes, wie dem Begriff der Ewigkeit, wenn diese nicht die Totalität der Zeit ist, spielen kann. Sagen Sie mir, ob man diesen falschen Begriff so vermitteln kann: Auch wenn die Ewigkeit unendliche Zeit scheint, hat sie jedoch mit der Zeit keinerlei Verwandtschaft, noch Ähnlichkeit oder eine entfernte Analogie. Die Ewigkeit hat nichts mit etwas Bekanntem oder Erkennbarem zu tun. Die Erkenntnis aller Dinge hängt von dem Bild ab, das uns die Zeit davon gibt. Wenn ich einem intelligenten Kind und nicht einem von seinem Philosophiedozenten verdorbenen Studenten erklären sollte, was die Ewigkeit ist, würde ich ihm sagen, sich zuerst die Zeit in Jahren, in Milliarden von Milliarden von Jahren, die vorübergehen, vorzustellen. Dann soll es sich die Ewigkeit als etwas vorstellen, das diese ganze Zeit in einer Milliardstel Sekunde vorüberziehen sieht und sofort würde ich hinzufügen, daß nicht einmal diese Milliardstel Sekunde mit der Ewigkeit zu tun hätte, denn diese hat mit der Zeit gar nichts zu tun. Das Milliardstel einer Milliardstel Sekunde kann gemessen werden, die Ewigkeit hat mit keinem Maß zu tun.

Herr Professor, was sagen Sie zu diesem Trick, um einem Schüler verständlich zu machen, was die Ewigkeit ist, wenn sie nicht die Totalität der Zeit ist?

Entscheiden Sie jedoch, ob ich eben verstanden habe, was man unter Ewigkeit meint. Sie scheint mir wie Ihr absolutes Unendliches, das nichts mit dem zahlenmäßigen Unendlichen gemeinsam hat und daher wie die Ewigkeit ist, die mit der Zeit nichts gemeinsam hat.

Sie sollten mir jedoch erklären, warum alle beim Wort „Ewigkeit“ sofort an die unendliche Zeit und beim Wort Unendlichkeit an die Unendlichkeit der endlichen Dinge denken. Vielleicht weil allen die Ewigkeit und das reine Unendliche als nicht existierend erscheinen? Oder weil im Encephalon nur endliche Wirklichkeiten sind? Mir scheint, daß wer die Existenz einer Ewigkeit vertritt, die nicht die unendliche Zeit sei, der sich selbst belügt. Die Definition einer Entität ohne Zeit stützt sich nämlich nur auf die Negation jeder realen Definition. Es ist durch die Negation des zeitlich Bekannten, daß wir zum nicht Existierenden, mit einem leeren Namen bezeichnet, gelangen. Ich glaube, die Schlußfolgerung der Existenz einer das Reale transzendierenden Entität sei nur dort möglich, wo das Transzendente dem Realen nicht entgegengesetzt, sondern seine Gewährleistung sei, wo „das Endliche wahres Sein sei“, daher kann man alles über dieses Sein sagen, weil es selbst unendlich ist. Etwas kann ohne zeitgleiche Wahrnehmung gedacht werden, aber unter der Bedingung, daß es von der vergangenen Wahrnehmung nicht absieht und ihren Endzweck beinhaltet.

Gott wird etwa nicht gemindert, wenn man ihm das Bedürfnis nach der Effizienz der Welt zuschreibt, denn ohne das Bedürfnis nach ihrer Effizienz würde die Welt nicht existieren. Aber wie man sieht, stützt sich das Bedürfnis nach der Existenz auf keine Negation und auf keinen Gegensatz, sondern ist die Bestätigung schlechthin.

Gott wird die Unendlichkeit auch nicht entzogen, denn die Effizienz des Unendlichen als Totalität der Zeit ist unendlich.

Es heißt, Leonardo da Vinci bereitete den passenden endgültigen Lackanstrich zu, bevor er anfing, ein Gemälde zu malen. Manche sagten daher, Leonardo sei verrückt, denn er begann ein Werk vom Ende und nicht vom Anfang. Dieser Anedokte verdeutlicht, warum eine „Priorität“ keine Vorzeitigkeit ist und der zeitlichen Folge nicht unterliegt. Zeitgemäß hätte Leonardo zuerst das Gemälde malen und es dann lackieren müssen. Wenn jedoch der Lack nicht zuvor zubereitet oder für ein gewißes, mit einer bestimmten Technik zu malendes Gemälde auf konkret passende Weise gedacht worden wäre, hätte man dieses Gemälde vergebens oder überhaupt nicht angefertigt. Für Leonardo hatte der Lack eine Priorität im Vergleich zum Gemälde, obschon er zeitlich gesehen nach dem Gemälde kam. Die Priorität Gottes ist die einfache Gewährleistung für die Effizienz der Dinge und hat keine Beziehung zur Chronologie der Dinge, auch wenn sie die Dinge in ihrer Chronologie gewährleistet. Diese Gewährleistung der Effizienz transzendiert den gewährleisteten und effizienten Gegenstand. Sie ist einzigartig und ziemt sich als einziges Attribut für Gott, da sie den effizienten Dingen nicht unterliegt. Also kann Gott gedacht werden, auch wenn er nicht wahrgenommen wird, denn er wird gedacht als Gewährleistung dessen, was wahrgenommen wird, da das, was wahrgenommen wird, sich (ohne Finalität) nicht selbst gewährleisten kann. Da Gott die Finalität der wahrgenommenen Dinge ist, garantiert er deren Existenz. Wenn die wahrgenommene Materie der „Gegensatz“ Gottes wäre, würde Gott verschwinden, denn der Gegensatz dessen, was gewiß ist, ist das Unmögliche. Gott wäre nicht gedacht. In der Negation der Existenz der Materie befindet sich die Negation des Bedürfnisses der Existenz. Gott ist daher real, denn das reale Endliche, das Gott denkt, ist real. Das Reale denkt ihn als die Gewährleistung seiner Existenz. Und es ist kein Wahnsinn, das Bedürfnis nach Effizienz von den effizienten Dingen zu unterscheiden. Wenn man die Zweckmäßigkeit all unserer Handlungen zugibt, muß sie wohl zumindest in unseren Augen von den zweckgebundenen Dingen unterschieden werden. Aber scheinbar sehen unsere Augen das, was ist und nicht das, was nicht ist. Aber Sie, Herr Professor, sahen viele Dinge mit den Augen nicht, Sie erfanden die „Gegensätze“ dessen, was Sie sahen. Wir sehen die Priorität Gottes als die Priorität, die wir dem Zweck unserer Taten verleihen. Da Gott das Bedürfnis nach der Effizienz unserer Taten ist, hat Gott daher notwendigerweise eine Priorität ohne zeitliche Bestimmung zu unseren Taten, aber auch zu dem, was wir nicht machen, wenn es als Tat gedacht oder mittels der Kenntnisse des Realen zu machen ist.

Auch die einfache Vorstellung, einen Gegenstand herzustellen, Gutes oder Böses zu tun, liegt formell, strukturell und physisch konkret im encephalischen Bild und wird von dem Bedürfnis nach einer vollendeten Tat angetrieben. In der Entscheidung, etwas zu tun, liegt bereits die Form jenes Etwas in unserer physischen encephalischen Struktur. Es sind nur die von einem fremden Willen angetriebenen Verhinderungen, die unser Projekt fehlleiten können und daher, auch wenn das Projekt nicht verwirklicht ist, hat sein Primärbedürfnis nicht gefehlt, vielmehr gehört es der Priorität der Seele ohne spezifische Bestimmung, wie wir bereits gesagt haben.

Schließlich werden Sie mich fragen, warum ich Sie dem Kaiser des Bildersturms gleichstelle: Sie hatten kein Kaiserreich zu verteidigen, das ist wahr, aber Sie verteidigten Ihre Burg, indem Sie viel Stroh und wenig Korn machten. Äußerst kaltblütig haben Sie die Gestalt der Natur als Sündenbock genommen und an die Folgen nicht gedacht.

Im Übrigen weiß man, daß Ihnen der wundervolle Anblick der verschneiten Alpengipfel keine Emotionen erweckte. Heutzutage würde ein Neurobiologe bei Ihnen eine Gehirnverletzung oder -Störung vermuten, die typisch desjenigen sind, der perfekt rational ohne Gefühle ist.

Es ist nun höchste Zeit, daß ich diesen Brief an Sie mit der Miteilung, wie versprochen, der Ergebnisse eines mit wissenschaftlicher Korrektheit durchgeführten Experiments abschließe, in welchem erwiesen wird, daß die Gestalt der sinnlichen Natur der Inhalt der Natur und der Idee der Natur ist: Ein französischer Forscher, Professor Changeux, der das Labor für Molekularneurobiologie beim Pasteurinstitut in Paris leitet, berichtet von einem Experiment, das von einer Wissenschaftlergruppe an einem Makaken durchgeführt wurde. Bei dem Experiment wurden die Neuronantworten des Affen, die nach der Erklärung von Professor Changeux mit denen des Menschen übereinstimmen, aufgenommen. Diesem Affen wurde die Zeichnung eines Menschengesichts von vorne gesehen gezeigt. Dann wurde ihm dieselbe Zeichnung gezeigt, jedoch ohne Augen. Danach wurde die Zeichnung mit „naiven“ Linien gezeigt, wie man heute im künstlerischen Fachjargon sagen würde. Dann wurde das Bild auseinandergelegt und in getrennten Teilen gezeigt, im heutigen künstlerischen Fachjargon „abstrakt“, d.h. nicht figurativ, ohne Analogie zu den genetischen Formen der ersten Zeichnung. Also, die Neuronantworten waren beim ersten Bild am intensivsten, wurden allmählich schwächer und waren schließlich vor der abstrakten Vorlage fast verschwunden. Das Experiment beweist Folgendes: Wenn ein Zeichen aus Analogie auf die Funktion eines logischen, d.h. strukturell von Natur aus finalisierten Bildes, also auf einen rationalen Wert nicht zurückzuführen ist, bringt es keine gefühlsmäßigen Antworten. Das Experiment der Forscher dient nun als wissenschaftliche Grundlage für die von mir und wenigen anderen verfochtene These, daß das Informel durch den Ausschluß jeder Analogie zur genetischen Form der Natur die Möglichkeit jeglicher gefühlsmäßigen Antwort ausschließt. Dieses Experiment zeigt auch, daß jenes „Sinnliche“, das Ihrer Meinung nach besiegt werden muß, eindeutig der Sieger ist. Der Geist, so wie Sie sich ihn im Gegensatz zum „Fleisch“ vorgestellt haben, existiert nicht und die Kunst ist nur die formale finalisierte Vollendung des Sinnlichen, jenes Sinnlichen, auf welches jede Erkenntnis und daher jede geistige Bewegung, soweit sie sinnlich ist, zurückzuführen ist. Lieber Herr Hegel, die Kunst, die Sie gekreuzigt haben, ist am dritten Tage auferstanden.

Mit vielen sinnlichen Grüßen.

Mario Donizetti

P.S. Ich darf mich bei Ihnen für den anmaßenden Ton meines Briefes entschuldigen, aber ich habe ihn verfaßt, angetrieben von der Beleidigung, die ich von der modernen Welt, einer deren Gründer Sie sind, erfahren habe.

   

Anmerkung 1

BRIEF AN PLATON

 

Lieber Platon, lieber Meister,

 

vielleicht hat Dir noch niemand das mitgeteilt, was die Wissenschaftler meiner Zeit so großzügig allen vermittelt haben und somit die Unterscheidung zwischen dem Menschen mit Gemeinsinn und dem Philosophen mit „ekstatischem Wissen“ aufgehoben haben.

Ich selbst habe Kenntnis von einigen Tatsachen erlangt. Ich habe sie mit den neueren Problemen der Kunst und mit Deiner Lehre der „Ideen“ in Zusammenhang gebracht und mich dazu entschlossen, Dir diesen Brief zu schreiben.

Also sagte mir Vittorino Andreoli, ein Neurologe von hohem Ruhm, daß ein aus wenigen Zellen bestehender Organismus nie ein Nervensystem und schon gar kein zentrales Nervensystem oder Gehirn besitzt, denn die Zellen, die ja wenig sind, stehen alle in direktem Kontakt zum Äußeren des Körpers, zu dem sie gehören und können daher selbstständig und direkt von außen das erhalten, was ihnen zum Überleben dient. Wenn auch ohne die Anweisungen eines Gehirns handeln all die Zellen für das eigene Einzelwohl, welches gleichzeitig das Wohl des gesamten Organismus ist. Jede Zelle eines Organismus ist nach dem eigenen Bedürfnis gegliedert, genauso wie diejenigen die, ohne einem Organismus anzugehören, jedoch selbstständig und nicht gemeinschaftlich in Anhäufung leben.  Auch wenn die Zellen in Anhäufung nebeneinander sind, haben sie im Gegensatz zu denen eines Organismus weder eine nutzbringende Beziehung zueinander noch einen Austausch miteinander.

Nun frage ich Dich, ob man sagen kann, daß ein Organismus ein solcher ist und sich von der Anhäufung unterscheidet, wenn die Zellen zusammen mit den anderen nahe- und aneinanderliegenden Zellen eine zu einem gemeinsamen Zweck gerichtete Funktion ausüben und nicht mehr unabhängig und selbstständig sind. Wenn das stimmt, kann man wohl auch sagen, daß eine nicht unvereinbare Beziehung zwischen „Vielfältigkeit“ und „Einheit“ möglich ist. Man kann sagen, daß die gemeinsame Finalität seiner Teile „einen“ Organismus als solchen bestimmt und daher kann man denken, daß die Teile eines Organismus ihrerseits „eins“ und solche sind, da sie wiederum von einem Zweck, wie dem Kern, den Membranen u.s.w. (im spezifischen Fall der Zellen) angetrieben sind. Diese Teile bestehen dann aus weiteren immer zahlreicheren Teilen, die durch einen gemeinsamen Zweck wie die Moleküle, die Atome und die kleinsten Teilchen gekennzeichnet sind. Wie ich bereits gesagt habe, wird die „Vielfältigkeit“ (die Teile eines Organismus) nur dann zur „Einheit“, wenn die Teile einen gemeinsamen Zweck erfüllen. Du hast bewiesen, daß „eins“ nicht formal sein kann, auch wenn es nach den Worten Parmenides kugelförmig ist und aus einem einzigen Stück besteht. Ich erinnere mich an Deine Bemerkung, daß die Mitte einer Kugel nicht ihrer Oberfläche entspricht und „eins“ also nur der Zweck ist, der jedoch als solcher die Teile transzendiert. Durch seine Einheit transzendiert er die Formen und ihre Mechanismen. Wenn im Gegenteil die Finalität des Mechanismus sich mit dem Mechanismus selbst identifizieren würde, wie die modernen Menschen möchten, würde auch die Idee selbst des Mechanismus fehlen. Das „eine“ ermöglicht nämlich die „vielen“, da die „vielen“ „viele einen“ sind. Würde das „eine“ der Finalität nicht existieren, könnten wir weder die Idee des „einen“ noch die Idee der „vielen“ Mechanismen und der vielen Formen, der vielen Zellen, der vielen Atome haben, die „viele“ sind, weil sie eben „eins“ in der Finalität sind.

Die Erkennung des Mechanismus, d.h. der Form als Funktion eines Gegenstandes oder eines Körpers ist möglich, falls „eine“ Finalität ermittelt wird, wie es für den Organismus im Gegensatz zur Anhäufung gesagt wurde. Es ist daher notwendig, daß das „eine“ die Existenz der „vielen“ und umgekehrt sei. Den vielen würde die Existenz fehlen, wenn sie „eine“ Finalität nicht hätten, die sie transzendiert, auch der Finalität würde die Existenz fehlen, wenn sie die vielen nicht finalisieren würde, denn ohne die vielen würde sie nichts finalisieren.

Die Transzendenz der Finalität ermöglicht die Existenz sowohl des „einen“ als auch der formalen „vielen“.

Ohne die Existenz des „einen“ wären die „vielen“ vernichtet, d.h. inexistent, wobei das „eine“ jedoch seinerseits keine „Wirklichkeit“ hätte, wenn ihm die „vielen“ entzogen wären, denn es wäre der Zweck dessen, das nicht existiert und ein Zweck dessen, das nicht existiert, existiert nicht. „Eins“ und „viele“, d.h. die Körper und ihr Zweck müssen also, wenn auch getrennt, simultan sein.

Also sagte ich Dir, daß wenn ein Organismus dank der stetigen Vervielfältigung seiner Zellen umfassend wird, wenn seine Zellen durch ihre Anzahl die nach außen gerichtete Oberfläche des Organismus überschreiten, das heißt wenn einige Zellen im Inneren des Organismus von den äußeren Zellen isoliert werden und nicht mehr die Möglichkeit eines externen Kontaktes haben, um ihre Bedürfnisse nach der Erkenntnis ihres einzelnen Wohles oder Übels unmittelbar zu befriedigen und daher ihr Wohl nicht mehr unmittelbar auswählen und sich also um ihre Erhaltung kümmern können, der Organismus Nervenzellen herstellt und sie in einem System anordnet, das sich im gesamten Körper verzweigt und diejenigen Informationen, die die äußeren Zellen dank ihrer Lage bereits kennen, nach innen, das heißt zu den inneren Zellen des Körpers, weiterleitet.

Die so genannten intelligenten Tiere haben Milliarden und Abermilliarden von Zellen, also braucht das Nervensystem eine Zentrale zum Sammeln der Informationen und zum Weiterleiten der Befehle an alle Zellen des Körpers aufgrund der empfangenen Informationen und dies zum Zweck des Überlebens des gesamten Organismus.

Genauso wie die Staffeln Nachrichten aus den Randgebieten zum Amt eines Staates bringen, so gelangen die von einer Kette von Nervenzellen übermittelten Informationen von der Peripherie unseres Körpers ans Gehirn.

Wie von der Regierung Befehle an die Grenzprovinzen erteilt werden, wie sie aufgrund der erhaltenen Informationen mit den angrenzenden Staaten umgehen sollen, so werden vom Gehirn an alle Zellen des Körpers Befehle erteilt, aufgrund der erhaltenen Informationen dieses oder jenes zu tun oder nicht zu tun. Man kann also nicht ausschließen, daß sich die Staaten, ohne sich dessen bewußt zu sein, bereits seit jeher aufgrund der gleichen Notwendigkeit und daher einem Naturgesetz gemäß nach dem Schema der genetischen Organismen organisiert haben. In der Aufgabe, Informationen zu empfangen und weiterzuleiten, hat der gesamte Körper an diesen Funktionen teil und fühlt sie, spürt sich selbst in einer auf diese Funktionen finalisierten Spannung, genauso wie in einer wahren Demokratie. Der Staat steht im Dienste der Individuen, aus denen er besteht und diese identifizieren ihre eigenen Interessen im Staat. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß sowohl ein Körper als auch ein Staat einen selbstverständlichen Kollaps erleiden, wenn keine Erwiderung von „liebevollen Gefühlen“, wie Du sagtest, besteht. Du hast eben Deine „Republik“ als einen Naturkörper mit Unterteilung in Fachteilen konzipiert. Wie ein Körper je nach Funktion sich verschiedener Fachzellen bedient, so hast Du Dir Menschen im Dienste der Republik vorgestellt, die auf spezielle Funktionen spezialisiert waren.

Kehren wir jedoch zu unserem Hauptinteresse zurück. Wie ich Dir schon gesagt habe, können die Zellen eines Organismus ohne Nervensystem und ohne Gehirn dennoch ein zweckgebundenes Verhalten haben, das ihnen optimal dem Fortbestand und der Vervielfältigung dient. Nicht mehr und nicht weniger als die von einem zentralen Nervensystem organisierten Zellen. Ihre Methode ist scheinbar sehr einfach, aber ebenso perfekt.

Genau wie ich Dir gesagt habe, je mehr die Anzahl der Zellen eines Organismus steigt, so steigt auch die Gesamtheit des Nervennetzes und seines Zentralsystems, jedoch nicht dessen Perfektion. Diese komplexe Organisation der Nerven und des Gehirns bildet sich scheinbar, um ein Problem zu lösen, das der Organismus bereits gelöst hatte, als die Anzahl seiner Zellen so gering war, daß sie logistisch gesehen alle in Kontakt zur Außenwelt angeordnet waren, wie ich Dir schon sagte. Über den Schein hinaus muß diese Organisation jedoch auf die Lösung eines neuen Problems zweckgebunden sein, das hinter dem der Ernährung, des Überlebens oder der Vervielfältigung der Zellen steht, da die Lösung eines schon gelösten Problems unverständlich ist.

Gut. Aufgrund dieser Tatsachen muß Deine Theorie der Vorzeitigkeit der „Ideen“ im Hinblick auf die Wirklichkeit korrigiert oder erklärt werden.

Nach Deiner Lehre ist die Wirklichkeit eine „Kopie“ der „Idee“. Du hast mich schon verstanden, aber ich gebe Dir trotzdem Informationen, die Dir die Wissenschaft Deiner Zeit nicht geben konnte. Wie das Gehirn der anderen Tiere hat sich auch unser Gehirn – und hier bitte ich Dich demütigst, Dich nicht zu beunruhigen und wohlwollend meinen Brief weiterzulesen – nach den komplexen Entwicklungen der Zellenanzahl unseres Ahnenkörpers gebildet, der genauso wie die anderen von einer ersten unsrigen gemeinsamen Ahnenzelle entstanden ist. Und wie alle Organismen hatte auch unser Ahnenorganismus das Bedürfnis, sich zuerst ein Nervensystem zu bilden und dieses dann im Encephalon zu zentralisieren.

Voraussetzung dafür ist, daß unsere erste Ahnenzelle und unsere derzeitigen Zellen eine Struktur mit der Funktion eines zentralen Nervensystems besitzen mußte bzw. müssen, auch wenn es eines Langzeitgedächtnisses unfähig, aber dazu fähig ist, das eigene Wohl für sich unmittelbar, d.h. ohne zerebrale Vermittlung zu bestimmen und das Übel zu verweigern.

Manche interpretieren diese Entscheidungsfähigkeit oder zweckmäßige Freiheit der Zellen und der azephalen Organismen als reinen Mechanismus ohne freie Zweckmäßigkeit. Ein sich ohne Zweckmäßigkeit bewegender Mechanismus geht jedoch gegen die Vernunft. Wenn ein Organismus nämlich keinen Zweck hätte, wäre er bewegungslos, er hätte keinen anderen Zweck als den zu existieren, ohne sich für einen Zweck zu bewegen. Durch die Macht, bewegungslos und vollkommen mit sich selbst befriedigt zu sein, wird ein eventueller Mechanismus überflüssig, denn die einfache Macht über sich selbst ist an sich ausreichend für seine Existenz und erfordert keinen Mechanismus, um diesem gemäß zu existieren. Wo ein Mechanismus ist, muß also unbedingt auch ein zweckgebundenes Bedürfnis bestehen, das dem Mechanismus durch Transzendenz Effizienz und Finalität verleiht. 

Wie man sieht, besitzen die einzelnen Zellen zweckmäßige Effizienz, sie besitzen eine logische Effizienz. Und nun ist es notwendig, daß das Verhalten des aus Zellen ohne zentrales Nervensystem bestehenden Organismus sich von demjenigen mit zentralem Nervensystem nur dadurch unterscheide, daß es kein zentralisiertes und langzeitiges Gedächtnis hat. Wie ich Dir sagte, erscheint uns also die enzephalische Idee wie das Gedächtnis der logisch effizienten Zellularfähigkeit, das auch zur Erhaltung der abgesonderten Zellen dient, die logistisch gesehen weitweg vom äußeren Kontakt des Organismus angeordnet sind. Es ist also anzunehmen, daß sowohl die aus Zellen ohne Nervensystem bestehenden Organismen als auch die von einem Gehirn organisierten Organismen eine „Idee“ ihrer Finalität haben. Die ersten haben eine Idee als Kurzzeitgedächtnis, die nur gegenwärtigen Entscheidungen ohne Erinnerung oder Gedächtnisbewußtsein der zuvor getroffenen Entscheidungen angemessen oder nützlich ist und in diesem Entscheidungsakt erschöpfen sie das Gedächtnis von sich selbst. Die zweiten sollten über die Möglichkeit verfügen, dieses Kurzzeitgedächtnis zu bewahren, da sie es durch das Nervennetz an ein finalistisch aktives Archiv zugunsten der Zellen ohne Kontakt zur Außenwirklichkeit weitergeleitet haben.

Dank dem Nervennetz, das dem Gehirn zuerst das Kurzzeitgedächtnis vermittelt, es aber dann mit Hilfe desselben Mittels als Langzeitgedächtnis weiter verteilt, versorgt dieses Archiv Informationen, wie Du gesehen hast, ebenfalls den logistisch gesehen im Kontakt zur Außenwelt angeordneten Zellen. Das Gehirn wäre also nichts anderes als nur das Gedächtnis der finalistischen Bedürfnisse eines Organismus. Sowohl im Organismus mit Gehirn als auch in dem ohne Gehirn sehen wir jedoch einen zweckgebundenen Mechanismus, der ebenso perfekt ist, daß wir sogar nicht sagen können, welcher von beiden besser ist.

Wenn wir jetzt zu unserer ersten Ahnenzelle und folglich zum Problem der Vorzeitigkeit der Ideen in bezug auf die Wirklichkeit zurückkehren, darf ich wohl annehmen, daß auch Du nun, wenn Du den Ursprung unseres Gehirns und die Ursache bzw. das Bedürfnis erfahren hast, wonach es sich gebildet hat, also denken wirst, Sokrates sollte im bewundernswerten Dialog mit Hippias das Gegenteil dessen vertreten, was er bereits vertreten hatte. 

Durch Sokrates würdest Du heute sagen, es sei nicht mehr denkbar, die Idee von Bett gehe einem wirklichen Bett vorher und sei eine Kopie der von Gott gegebenen Idee der „Art“ Bett, da in diesem Fall unsere erste Ahnenzelle sowie die Ahnenzelle anderer Tiere wie Fische und Würmer die Idee von Bett schon haben mußten.

Die ersten Ahnenzellen hatten kein Gehirn, um historisch zu denken und konnten also weder die Idee von „Art“ noch die Idee von Bett haben, die schlechthin historisch ist.

Wie Du gesehen hast, erfordern die historischen Ideen ein zentrales Nervensystem, um sich zu bestimmen, sich mit den Dübeln des Kurzzeitgedächtnisses strukturell als Langzeitgedächtnis aufzubauen. Wenn also etwas der physisch formalen Wirklichkeit vorhergehen muß, wie Deiner Meinung nach die Idee von „Art“ sein soll, so glaube ich, daß dies im Falle des Bettes nur das Bedürfnis nach Ruhe sei, das der Idee von Bett vorhergeht, denn das Bedürfnis nach Ruhe kann auch ohne Bett gestillt werden. Die Zellen spüren dieses Bedürfnis in bezug auf ihre Form ohne historische oder enzephalische Idee des Bettes oder der Art des Bettes.

Du siehst nun, daß die Bildung eines zentralen Nervensystems oder Gehirns auf das Bedürfnis zurückzuführen ist, das Gedächtnis der Bedürfnisse zu behalten, die das Nervensystem sammelt. Die Bildung des Nervennetzes gründet sich auf das Bedürfnis, den inneren Zellen des Organismus die Erfahrungen der Zellen mit Außenkontakt zum Organismus zu übermitteln. Der Kontakt der Zellen zur Außenseite des Organismus ist auf das Bedürfnis nach Ernährung bzw. Erkenntnis der Außenwelt für ein inneres Interesse zurückzuführen. Die Ernährung wiederum gründet sich auf das Bedürfnis nach Existenz. Letzten Endes scheint es mir, daß all diese von ihren Phänomenen unterschiedlichen Bedürfnisse von einem einzigen primären und undifferenzierten Bedürfnis angetrieben seien. Mir scheint, daß das Bedürfnis nach Existenz für alle Phänomene gleich sei.

Wenn es zwar der Wahrheit entspricht, daß die Bildung des zentralen Nervensystems zeitlich gesehen in der Bildung eines Organismus die letzte ist und wenn es wahr ist, daß das gebildete Nervensystem oder Gehirn zum Zweck der Erhaltung des Organismus die erste Rolle hat (auch wenn später das Gehirn andere Finalitäten haben konnte), glaube ich zu verstehen, und sag mir bitte, ob ich mich irre, daß der gesamte Organismus aufgrund des Bedürfnisses nach seiner Existenz besteht. Ist es so, so ist die zeitliche Abfolge dessen, was wir als Bedürfnisse aufgezählt haben, die zur Bildung des Organismus, einschließlich seines zentralen Nervensystems führt, nichts anderes als eine LIste von Phänomenen, die auf ein einziges Bedürfnis zurückzuführen sind. Die Phänomene sind dann in logischer Reihenfolge, weil ihr Bedürfnis ein einziges ist. Dasjenige, das als erstes Bedürfnis in der Finalität der Erhaltung eines Organismus aufgezählt wurde, ist in der Tat auch das letzte, das heißt gleichzeitig zum ersten und den dazwischen liegenden. Da ihr Aufeinanderfolgen nur ein Teil vom Ganzen ist, werden sie in diesem Ganzen zur Einheit. Da das Bedürfnis dem Leiden der Zeit und der bestimmten Numerierung der Phänomene nicht unterliegt, muß es „eines“ sein und die Phänomene transzendieren.

Wenn das Primärbedürfnis die einzelnen Phänomene transzendiert, kann es implizit nicht die Ursache der Phänomene sein, denn zwischen der Ursache und dem Verursachten kann aus Vernunftbedürfnis kein Naturunterschied bestehen.

Und noch aus Vernunftbedürfnis folgt soeben, daß die einzelnen Phänomene für sich selbst keine anderen Phänomene verursachen können. Die Phänomene sind nämlich logisch koordiniert und was koordiniert wird, kann selbst nicht koordinieren, was beherrscht wird, kann nicht herrschen. Wenn die Phänomene logisch finalisiert sind, werden sie von der Logik der Phänomene transzendiert. Und „eine“ und transzendierende Finalität kann nur „ein“ einziges Phänomen finalisieren. So sind die vielen Phänomene nur Teile eines einzigen Phänomens. So erscheint es deutlich, daß auch die Bildung der Organismen mit Gehirn dem gleichen Phänomen gehört, das einzellige Organismen wie die Moleküle, die Atome und die gesamte Welt der Mineralien, ich meine die gesamte Existenz bildet.

Einige wissenschaftliche Forscher streiten heutzutage ab, daß die Phänomene eine gebührende Ursache besitzen und sind der Meinung, daß das Phänomen auf seine „Bedingung“ zurückzuführen sei. Dieser Begriff von „Bedingung“ scheint mir, sich vom Begriff von Ursache nicht zu unterscheiden. Mir scheint, daß die „Bedingung“ eine Vielzahl von gleichzeitigen Ursachen sei. Anstelle einer notwendigen vorzeitigen Ursache, wie die Alten sagten, hätte das Phänomen viele Ursachen und einige davon würden das Phänomen per Zufall hervorrufen. Abgesehen von der alten scheint mir diese neue Theorie des Zufalls eine Entstellung der Heisenbergschen Theorie zu sein. Der große Wissenschaftler wurde davon bewußt, daß die Beobachtung der Phänomene in der subatomaren Welt (und nur darin, denn im großen Kosmos nimmt man an, daß das Gesetz nicht dem Zufall überlassen ist) in der Abwicklung der Phänomene selbst als Mitursache mitwirkte und sie dabei kontaminierte. Er stellte fest, daß die einzige Möglichkeit, sich an die Wahrheit der Phänomene anzunähern, darin bestehe, die Ergebnisse der Experimente zu numerieren und zu sehen, bei wie vielen Beobachtungen zu bestimmten „Bedingungen“ das erwartete Phänomen eingetreten sei. Dies bedeutet, den „Bedingungen“ eine verursachende Macht anzuerkennen.

Das Phänomen hinge auch noch vom Notwendigsein der Ursache ab und sei nicht dem Zufall überlassen. Der Zufall würde nämlich den Wert der Wahrscheinlichkeitsrechnung entkräften. Wenn das verfehlte Phänomen auf den Zufall zurückzuführen wäre, so wäre es auch das Phänomen selbst und auf das, was sein und zugleich nicht sein könnte, kann man keine Wissenschaft gründen. Heisenberg durfte fest an die erforderliche Beziehung zwischen Ursache und Wirkung glauben, wenn er eine Untersuchungsmethode der Beziehung Ursache und Wirkung ausarbeitete, in welcher die Unstetigkeit und die Ungenauigkeit der Beobachtung von Seiten des Forschers auszuschließen sei.

Wie ich also sagte, daß die Phänomene keine anderen Phänomene verursachen können und diese aufgrund des Primärbedürfnisses existieren, das sie transzendiert, so kann wohl dieses Bedürfnis sie nicht verursachen, andernfalls würde es sie nicht transzendieren, da zwischen einer Ursache und dem Verursachten eine Beziehung derselben Art notwendig ist.

Vor einiger Zeit glaubte ich, der Beweggrund der Phänomene sei eine effiziente Ursache, jetzt aber sehe ich, daß der Begriff von Ursache so gebildet ist, daß es dem, was ich sagen will, nicht entspricht.

Unter „Ursache“ versteht man das, was die Macht einer Tat, die das Verursachte ist, besitzt. Dieses Verhältnis setzt eine temporale Vorzeitigkeit der Ursache gegenüber dem Verursachten voraus, während ich jetzt zu verstehen glaube, daß zwischen dem Phänomen und seinem Bedürfnis kein temporales Verhältnis besteht (des Davor im Vergleich zum Danach), ein Verhältnis von Geben und Nehmen, aber von gleichzeitigem „Sein“. Das Bedürfnis der Welt, das wir mit dem Namen Gottes bezeichnet haben, kann nicht nur Ursache der Welt sein, denn dies würde ja bedeuten, der Ursache die Natur des Verursachten zuzuschreiben, es kann auch nicht Effizienz der Welt sein, denn es ist unmöglich, daß etwas Effizientes wie die Welt auf ihre Effizienz folgt. Daher sind die „Ursachen“ und die Phänomene gleichzeitig und unangemessen ist ebenfalls der moderne Begriff von „Bedingung“, wenn man eine Vorzeitigkeit der „Bedingung“ den Phänomenen gegenüber voraussetzt. Den wissenschaftlichen Forschern zufolge kann nämlich das Phänomen ohne „Bedingung“ nicht eintreten, also ist die „Bedingung“ eine Vielzahl von Ursachen und das hat sich als unmöglich erwiesen.

Die logischen Zeitfolgen der Phänomene sind also darauf zurückzuführen, daß sie Folgeteile eines einzigen unverursachten und vom Bedürfnis nach seiner einheitlichen Existenz transzendierten Phänomens sind. Daraus folgt, daß zwischen einem vorzeitigen und einem darauffolgenden Phänomen dieselbe logische Beziehung wie zwischen Ursache und Wirkung besteht, abgesehen von vorübergehenden Abweichungen des Verlaufs des vorgesehenen Phänomens, verursacht von der Interferenz der Freiheit unbekannter Phänomene, die, sobald sie bekannt sind, ihrem Verlauf vollständige Logik wiedergeben, als ob sie auf notwendige Ursachen zurückzuführen seien. Der Zufall ist daher ausgeschlossen.

Sicherlich wirst Du mich jetzt fragen, ob ein bestimmtes Phänomen ohne objektive Ursachen, d.h. ohne „Bedingung“ eintreten kann.

Auf den ersten Blick scheint dies unmöglich, aber ich habe Folgendes beobachtet: Ein Bund Schößlinge einer Pflanze wuchs homogen aus dem Samen im Schatten eines Mäuerchens. Nach einiger Zeit sah ich, daß einige dieser Schößlinge zur Seite gebogen waren. Ihre Enden bogen sich zu einem Schlitz in der Mauer hin, wodurch Licht und Luft kamen. Nach einigen Tagen bemerkte ich, daß die zum Licht gebeugten Schößlinge mehr als die anderen gewachsen waren und entschieden auf die Spitze der Mauer hin ragten. Es war offensichtlich, daß diese Schößlinge sich zweckmäßig in einer verschiedenen Weise als die anderen und bezüglich ihres Wachstums optimal verhielten. Die anderen blieben kleiner. Ich stelle Dir nun diese Frage: war es als vorzeitige Ursache des größeren Wachstums jener Schößlinge der Schlitz oder ihr persönliches Bedürfnis, mehr zu wachsen?

Meiner Meinung nach sind sowohl die eine als auch die andere gleichzeitig.

Ist der Schlitz die Ursache, so sind meiner Meinung nach auch der Samen, der Boden, die Wärme deren Ursachen, der Schößling selbst ist Ursache des Phänomens seines eigenen größeren Wachstums. Wenn es so ist, so ist der Schößling Ursache seiner selbst, aber das ist, wie wir gesehen haben, unmöglich. So ist das Primärbedürfnis der Schößlinge dasselbe, das Umwelt und Schößlinge antreibt und gleichzeitig mit ihrer Existenz erscheint, wobei uns die Phänomene in logischer Reihenfolge als rationale Teile einer einzigen Wirklichkeit erscheinen. Die „Teile“ sind konsequentermaßen logisch, weil sie Bestandteile der Wirklichkeit sind und nicht weil sie als Phänomene verursacht werden, was heißen würde, darin den absoluten Mangel an Freiheit einzugestehen.

Ein offensichtlicher Widerspruch muß jedoch noch gelöst werden: Wenn es nur eine Wirklichkeit gibt, müssen ihre Teile, d.h. die rationalisierten Phänomene, so sein wie sie sind und es gibt keine Freiheit? Was ich als planmäßige persönliche Idee bezeichnet habe ist also eine Illusion? Die Antwort ist, daß das persönliche Eingreifen auf die Welt der Dinge frei ist, jedoch gemäß dem Gesetz, das von der Freiheit der Dinge gebildet wurde, die zuvor in der Bildung der Welt erhalten wurde. Ich habe nicht die Freiheit, nicht zu denken, denn wenn ich nicht denken will, denke ich, daß ich nicht denken will. So bin ich frei, dem Evolutionsphänomen der Welt das hinzuzufügen, was der Welt zu ihrer Entwicklung aufgrund meiner persönlichen Meinung fehlt und da meine Meinung sich auf ein logisches Bedürfnis gründet, ist sie für die Logik der Welt notwendig. Die Freiheit wird von der Logik und nicht von einer Laune, d.h. vom Zufall, gewährleistet. Dieser gewährleistet nicht einmal sich selbst. Denn, wenn der Zufall zufallsbedingt ist, könnte er auch nicht sein. Was ist, ist von dessen Notwendigkeit gewährleistet. Auch wenn der Plan persönlich und frei ist, ist er doch universell und unterliegt den Gesetzen.

Ich wiederhole mich: die Zahlen einer Summe sind mit verschiedenen Werten frei angeordnet, sie sind also frei, aber die Summe ist einzig und eins ist das Gesetz, das sie bestimmt. Die Idee der vor dem enzephalischen persönlichen Bewußtsein stehenden Wirklichkeit ist an die Freiheit der Ahnen bzw. der vorhergehenden Individuen gebunden und ist Gesetz. Die planmäßige Idee der derzeitigen Individuen ist frei und wird zu Gesetz, wenn sie kodifiziert wird. Im aktiven, jedoch nicht rückwirkenden Prozeß ist das Gehirn frei. Wie Du noch lesen wirst, haben die modernen Forscher festgestellt, daß das Encephalon zwei unterschiedliche Bereiche aufweist, den genetischen Bereich, der die atavistischen Erfahrungen als Gesetz angenommen hat und den anderen, die sogenannte „plastische Zone“, die die freien persönlichen Erfahrungen darstellt und daher einen persönlichen, vom genetischen Gesetz frei stehenden Plan ermöglicht. Die Welt bildet sich also durch ihre eigene Freiheit, die zu Gesetz wird.

Lieber Platon, ich komme nun auf Dein Problem der Vorzeitigkeit der „Ideen“ gegenüber der Wirklichkeit zurück.

Nachdem wir gesehen haben, daß die rationale oder enzephalische Idee der Wirklichkeit auf jede gegebene Wirklichkeit folgt, scheint es mir angesichts der neueren Entdeckungen notwendig, besser, d.h. genauestens zu verstehen, wie man neben der enzephalischen Idee irgendeines Gegenstandes wie eines bestimmten Bettes auch die Idee seiner „Art“ haben kann.

Zunächst habe ich also gesehen, daß das einzige Bedürfnis jenes der Existenz ist und daß die logische und objektive Reihenfolge der Phänomene auf die Bildung der Totalität finalisiert ist. 

Dann sehe ich, daß die Totalität keine Finalität außer sich selbst, aber auch keine immanente Finalität haben kann. Mir erscheint notwendig, daß die Summe oder Totalität der Phänomene überhaupt keine Finalität habe, denn die Totalität ist das Ziel der Finalität ihrer Teile.

Mir scheint, daß eine Finalität nicht immanent sein kann, und zwar läuft ein Athlet, um den Wettkampf zu gewinnen. Der Sieg geht über das Laufen hinaus und transzendiert es, aber würde das Ziel nicht existieren, würde der Athlet um des Laufens willen laufen. Seine Finalität wäre immanent, d.h. inexistent. Aufgrund ihrer Natur erfordert die Finalität ihr Erlöschen durch den Ablauf der eigenen Handlungen zu einem Zielpunkt.

Die Immanenz der Finalität der Welt erscheint mit als ein Zauberspiel, das in die Tat umgesetzt wurde, um die Unendlichkeit der Welt und zugleich widersprüchlicherweise den Begriff von Ursache, d.h. ihrer Entstehung aus dem Nichts, zu retten.

Wenn die Welt nämlich unendlich ist, besitzt sie scheinbar kein Ziel und ohne ein Ziel verschwindet die Finalität und damit ihre Ursache. Damit sie nicht verschwindet, wird es behauptet, daß die Finalität immanent zur Welt sei.

Ich glaube jedoch, daß die Finalität nur in den Dingen ist, die die Welt bilden und daß die Finalität der Dinge, so wie die Dinge selbst, bei der Verwirklichung der Welt ausgelöscht wird.

Jemand könnte hervorheben, daß die Totalität der Welt auf ihre Teile zurückzuführen sei, aber wenn die Teile Finalität besitzen, besitzt auch die Totalität Finalität. Dieser Aussage kann man mit dem Beispiel der Körper der Erde antworten, wonach sie auf der Erde ein bestimmtes Gewicht haben, aber die aus der Totalität der schweren Körper bestehende Erde jedoch kein bestimmtes Gewicht hat. Eine Finalität als Summe der Teile anzunehmen, wenn auch nur innerhalb der Welt, bedeutet, dieser Finalität einen Prozeß der Rückkehr zu den Phänomenen anzuerkennen und daher würde es zwei Finalitäten geben, eine auf die Totalität hin und eine zurück zu den Phänomenen. Wäre es so, so wäre auch die Wiederholung von formal identischen Körpern möglich, da die Form der Körper die Phänomenenform der Finalität ist. 

Wegen ihrer persönlichen Finalität müssen also die Körper der Welt unterschiedlich und in ewiger Veränderung sein. Ebenfalls mit einem zu erreichenden Zweck bilden sie die Bewegungslosigkeit der Welt. Und wie die Bewegung der Teile und die Bewegungslosigkeit aller Teile in ihrer Totalität möglich sei wird uns noch einmal von der Natur der Addenden vorgeschlagen, die zahlreich, unterschiedlich und beweglich sind und ihre Summe notwendigerweise unbeweglich ist.

Die Welt kann keine Finalität haben, dies wäre eine Wiedervorstellung (von Seiten der Welt) dessen, was ihre Teile bereits zu ihrer Bildung zum Vorschlag gebracht haben. Mir scheint, daß die Finalität der Dinge die Schaffung ihrer Identität ist, das heißt ihre spezifische Unterscheidung von den anderen. Hätten die Dinge diese Finalität und somit die Unterscheidung voneinander nicht, würde die Welt in ihrer Art nicht existieren. Die Finalität transzendiert also die Dinge bei der Bildung der Welt. Würde die Welt die Finalität der Dinge bekommen, würde sie sich selbst zerstören. Die Finalität liegt in der Welt, ist aber nicht von der Welt. So sieht man deutlich die Notwendigkeit für eine logische, d.h. finalisierte Koordination zur Bildung der Welt, der einzelnen Teile der Welt, die sie transzendieren soll, ohne deren Ursache zu sein.

Lieber Meister, ich glaube zu verstehen, daß die Weisen der Existenz von einem einzigen Bedürfnis verursacht sind und daß es der Wahrheit entspricht, daß die Weisen der Existenz von der Freiheit der existierenden Dinge abhängen.

Ohne Freiheit sind nämlich unendliche Arten des Seins nicht möglich. Übrigens ist es für das Bedürfnis nach Existenz sinnlos, eine Existenzform anstelle einer anderen aufzuzwingen. Bevor irgendeine Existenzform existiert, ist es unmöglich, eine Existenz einer anderen vorzuziehen, also ist die Freiheit mit der Existenz verwurzelt und jede Vorbestimmung der Welt ist unsinnig. Wir können also glauben, daß die Existenz die Freiheit hatte und hat, sich selbst eine Form zu verleihen und nicht als eine Entscheidung, die die Existenz mehrerer zur Auswahl stehenden Formen voraussetzen würde. Sich selbst eine Form zu verleihen heißt es, selbst die eigene Form zu erfinden. Nur in dieser Weise besteht die Freiheit, denn die Freiheit,  zwischen der einen oder anderen Form zu wählen, ist eine obligatorische Entscheidung zwischen der einen oder der anderen. Ursprüngliche und absolute Freiheit ist nicht das Wählen, sondern das Schaffen einer Form und dies beinhaltet natürlich die Gleichzeitigkeit der Existenz und von Gott, wahrgenommen als Bedürfnis nach Existenz, wie ich schon gesagt habe. So nahm unsere erste Ahnenzelle ihre eigene Form an. Da sie keinen Zwang hatte, was sie entschied, war im Hinblick auf ihren Zweck perfekt. Sie entschied von selbst ihre Lebensform, genauso wie die Moleküle, die Atome und die kleinsten Teilchen, aus denen sie bestand, getan hatten.

Aufgrund der Evolution der Art der Existenz bilden sich die ersten Zellen in einem Organismus und später setzen einige ein zentrales Nervensystem zusammen, um auf die entsprechende Weise zu existieren.

Was Du Idee der Art des Bettes nennst, ist also die Idee der genetischen Ruhe, kombiniert mit einer Vielzahl von Ideen, die sich auf alle zur Erfahrung gehörenden Betten beziehen, d.h. auf die Ruhemittel, die von einem einzigen Bedürfnis hergekommmen sind.

Ich glaube dann zu verstehen, daß die „Idee“ des von Dir gedachten Bettes weder ein formales Verhältnis zu einem bestimmten Bett noch zu Gegenständen hat, die aus Analogie dieselbe Finalität der genetischen Ruhe aufweisen.

Vor Milliarden von Jahren gab es kein Eßbesteck, weil es nicht notwendig und aus Bedürfnis nicht erforderlich war. Heute kann dieses Besteck daher kein Ähnlichkeitsverhältnis oder formale Nachahmung zu einer Idee seiner „Art“ haben, die von Gott abstammend, wie Du glaubst, schon immer in den Zellen und in den Atomen unserer Ahnenmoleküle existieren müßte.

So geschieht es, daß jener Teil des Gehirns (einer Person), der für das Gedächtnis der Notwendigkeiten bzw. der genetischen Bedürfnisse nach Ruhe zuständig ist, unverzüglich mit dem so genannten plastischen Teil des Gehirns in Wechselwirkung steht, der für die gegenwärtige Verarbeitung des finalisierten Verhaltens des gesamten Organismus zuständig ist, und mit der Form eines Bettes die Möglichkeit verknüpft, das Bedürfnis nach Ruhe zu stillen, auch wenn diese Person noch nie die Idee von Bett hatte. In der eventuellen Verwendung eines Gegenstandes aus Notwendigkeit wird also scheinbar für diesen Gegenstand die Idee geschaffen, die Du „Art“ heißt. Jeder Gegenstand, wie ein Bett, ist also etwas anders als seine finalisierte Funktion, die ihn transzendiert (die Gewißheit, daß die Gegenstände von ihrer Finalität transzendiert werden, erhält man, wenn man sieht, daß Gegenstände, die sich in ihrer Form und Funktion voneinander unterscheiden, eine identische Finalität besitzen, wie die Uhr und das Stundenglas). In Wirklichkeit ist das Bett formmäßig einzigartig. Es ist von jeder anderen Form von Bett unabhängig und daher unabhängig von der Idee der „Art“.

Nun kann man meiner Meinung nach verstehen, wie die Beziehung zwischen Pluralität der bestimmten Gegenstände und Einheit der so genannten Idee der Art möglich sei. Noch einmal wird es verständlich, über welchen Weg ein Verhältnis des „Einen“ zu den „Vielen“ möglich sei, wie ich Dir gesagt habe.

Mir scheint es also unmöglich, daß der Tischler Betten herstellt, indem er eine Kopie der „Idee der Art“ eines Bettes anfertigt, denn zwischen dem „Einen“ der Finalität und den „vielen“ Betten des Tischlers, wie ich gesehen habe, ist kein formales Verhältnis möglich. Auf dieselbe Weise kann ein Künstler, der ein Bett malt, keine Kopie eines von einem Tischler hergestellten Bettes anfertigen. Jede Idee und jede Darstellung der Idee erscheint uns einzigartig und von einem vorzeitigen Modell unabhängig.

Man könnte also mit Gewißheit behaupten, daß die Idee der „Art“ der Gegenstände nicht existiert und der Idee der Form der Finalität Platz machen muß, wie es gesagt wurde, und ich meine, daß der Künstler einen Gegenstand wie ein Bett malt, der formal gesehen dem vom Tischler hergestellten „Bett“ nicht „ähnelt“, es jedoch faktisch mit Hilfe der Analogie seiner finalistischen Funktion darstellt, die an den gemeinsamen genetischen Bedürfnissen sowohl vom Künstler als auch vom Benutzer des Kunstwerks erkennbar ist. Eine „Kopie“ ist also unmöglich. Sowohl in der Idee als auch in der konkreten, physisch wahrnehmbaren Form ist sie unmöglich. Was in der so genannten Ähnlichkeit unterschiedliche Formen vereint (jede Form ist absolut einzigartig), ist ihre gemeinsame Finalität und Nutzbarkeit ihrer Finalität unsererseits. Das vereinende formale Element ist die Synthese der formalen von uns, d.h. von unserem Projekt finalisierten Elemente. Dies bedeutet selbstverständlich, daß aus unseren Interessen die von uns nicht finalisierten Formen des wirklichen Gegenstandes ausgeschlossen werden. Wir haben sie Immer als „zufällig“ bezeichnet, obwohl diese am Gegenstand dieselbe Rolle derer einnehmen, die wir „substantiell“ nennen. Die für unseren Projekt nützlichen Formen nennen wir „Substanz“, die ausgeschlossenen „Zufälle“. Es ist jedoch klar, daß sowohl die „Substanz“ als auch die „Zufälle“ eines Gegenstandes in Wirklichkeit ein und dasselbe sind. So mag es auch geschehen, daß die, die bereits als „Zufälle“ eingeordnet wurden, gemäß unserem neuen planmäßigen Interesse zu „Substanz“ werden.

Lieber Meister, ich gestehe Dir, daß ich Mühe hatte, den Ursprung der Idee von „Art“ und ihre „substantielle“ Form zu suchen. Du mußt mir daher sagen, ob diese Mühe sich lohnte.

Jetzt teile ich Dir die Ergebnisse eines von Moruzzi durchgeführten Experiments mit. „Wenn man die Sichtwahrnehmung umkehrt und von Geburt an vor ein Auge eine permanente Linse setzt, die die Bilder um hundertachtzig Grad dreht, erhält man eine im Vergleich zur anderen Seite umgekehrte Strukturierung der betreffenden Okzipitalrinde“ (Vittorino Andreoli, La norma e la scelta, Mondadori 1984, S. 25).

Nun verstehst Du, daß etwas, das für ein Auge mit dieser Linse fällt, für das andere Auge steigt und dies bedeutet, daß wenn die Idee der „Art“ des Gegenstandes vor dem Anblick des Gegenstandes käme, könnte die Linse die Struktur der für die Wahrnehmung des Gegenstandes zuständigen Gehirnrinde nicht verändern und wäre die umgekehrte Sicht der Gegenstände nur eine vorübergehende optische Störung. Wie Du siehst, stehen sogar die Ideen, d.h. die Grundlagen und Bauelemente der Wirklichkeitsform, wie die vertikale oder die horizontale Struktur, die Schwerkraft usw., hinter der Wahrnehmung der vertikalen, der horizontalen Linien der Gegenstände, usw. Diese Ideen bilden sich, wie Du gesehen hast, nach einer sensoriellen Vorschrift strukturell, also sachlich im so genannten „plastischen Bereich“ des Encephalons, der für die Erkenntnis der neuen Probleme und daher für ihre Lösung durch die planmäßige Freiheit zuständig ist. Dementsprechend wird die logische Struktur des Gedankens von der physischen Struktur der Gehirnrinde und diese wiederum von der sensoriellen Wahrnehmung der Wirklichkeit festgelegt. Ich sehe, daß die Logik des Gedankens von der Logik der außerhalb des Encephalons liegenden Logik vorgeschrieben ist oder zumindest kann ich mit Recht annehmen, daß die enzephalische Rationalität harmonischerweise simultan zur Logik der Natur ist. Ich will damit sagen, daß das Denken sachlich ist und daß die Sinne eine logische und finalistische Funktionsfähigkeit wie das Gehirn besitzen. 

Seit etwa zweihundert Jahren haben sich jedoch die Philosophen in eine Scheinidee verliebt. Sie glaubten, die „Idee“ der Wirklichkeit und die Wirklichkeit seien nicht objektiv. Du hattest hingegen vor über zweitausend Jahren das Gegenteil heftig vertreten. Von diesem Übel werde ich Dir später erzählen. Nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen können wir aber sagen, daß das „Subjektive“ sich nur auf das „Individuelle“ beschränkt. Das Individuelle unterscheidet sich vom Subjektiven durch die Möglichkeit, die objektiven Ideen seines plastischen Encephalons persönlich zu verwenden.

Der Subjektivismus der alten modernen Welt verleugnet hingegen die Objektivität der Wirklichkeitsidee und stellt dieses Dilemma: Entweder beruht die Welt auf dem Subjekt (subjektiv beruhend) oder das Individuum ist vorbestimmt und ohne Freiheit.

Die sachlichen Ideen scheinen mir aber, die Freiheit des Individuums nicht einzuschränken, welches durch den Eingriff in die Evolution der Welt die Objektivität der Welt und die persönliche Freiheit bestätigt. Die neuesten Entdeckungen bestätigen sowohl die Freiheit als auch der Objektivität der Ideen wieder. Sie streiten die Unveränderlichkeit bzw. die Apriorität der Bedingungen der Erkenntnis ab. Sie streiten ab, daß alle Individuen diese Bedingungen gemeinsam haben.

Mein Plan erscheint mir neu im Gegensatz zu dem, den die Sinne meinem Gehirn übermittelt haben. Mein finalistischer und daher freier Eingriff in die Wirklichkeit ist objektiv, weil er die Kraft hat, die vorhergehende objektive Wirklichkeit zu ändern. 

Du mußt wissen, daß ich Maler bin und wie ich Dir bereits gesagt habe, schreibe ich Dir im Endeffekt aus diesem Grunde.

Ich möchte Dir sagen, daß ich anhand der Beobachtungen der Vorgänge, die mir das Malen eines Gemäldes ermöglichen, sehe, daß es zuerst die Lust auf das Malen gibt. Sie ist wohl auf jenes Bedürfnis und auf jene logisch-effiziente Fähigkeit zurückzuführen, von der ich Dir sagte. Dann sehe ich, daß die Wirklichkeitsidee oder enzephalisches Gedächtnis, welches ich von der Wirklichkeit habe, mir erlaubt, durch meine Freiheit die Form des von mir zu planenden Werkes zu erdenken und dies gemäß meinem Zweck, der sich nach meiner Form oder persönlichen Struktur gestaltet.

Ich glaube, daß das Bild, das ich malen werde, die Ideen oder das Gedächtnis der Wirklichkeitsgegenstände als Baumaterial, wie Bausteine eines Hauses anwenden wird und dazu einen Impuls oder Bedürfnis, eine neue Wirklichkeit wie ein neues Haus zu bieten, das einer neuen Funktion entspricht, die sich nicht mit den Gegenständen der Wirklichkeit identifiziert, die ich wie Bausteine verwende und von denen ich eine sachliche Idee habe, sondern sie durch meinen Zweck transzendiert, das Bild, wie ein Haus, zu machen. Aber während seiner Herstellung respektiert das neue Bild die planmäßige Idee nicht, auch wenn es sie nicht umkehrt. Keine vorhergehende Idee des Bildes hat jemals das Bild, das ich dann gemalt habe, garantiert. Während seiner Herstellung ergibt sich ein neues Werk wirklich neu und wenn es vollendet und von mir in die Wirklichkeit umgesetzt ist, sehe ich, daß die Idee, die ihm planmäßig vorausging, nicht verwirklicht ist. In der neuen formalen Wirklichkeit erkennt man zwischen der Idee oder Wirklichkeitsgedächtnis und der projektmäßigen Idee und zwischen dieser und der Idee des neuen Werkes drei Etappen. Die Idee, die ich mir vom neuen Bild mache, wenn es gemalt ist, ist also die dritte Idee, beginnend vom Gedächtnis der meinem persönlichen Projekt vorangehenden Wirklichkeit und ich kann diese Idee haben, erst wenn das Bild fertiggestellt ist und nicht bevor es begonnen wird, denn davor ist es nur ein Projekt, das eben aufgrund des Eingreifens der Freiheiten der von meinem Projekt formgemäß unterschiedlichen Außenwelt unabsehbaren Veränderungen während seiner Ausführung unterliegt. Das von mir erlernte „Sachliche“ ermöglicht mir seine sachliche Evolution durch mein Projekt, auch wenn es mir mein gesamtes Projekt nicht erlaubt.

Einige so genannte moderne Theoretiker sind der Meinung, daß das Kunstwerk, weil es eben aus einem Bedürfnis ohne Garantie des Ergebnisses entsteht, nicht von der Stringenz des Künstlers erzeugt wird, sondern von der Irrationalität, verstanden als Freiheit von der Strenge der finalisierten Folgerichtigkeit. Als „Alogizität“, sagte ein gewisser Benedetto Croce. Meiner Meinung nach sollte man zuerst das, was keine Stringenz aufweist, von dem, was nicht rational ist, unterscheiden. Wie Du gesehen hast, verhalten sich auch die Organismen ohne Encephalon, also ohne Rationalität, mit einer Stringenz, die vielleicht größer als die der Organismen mit Encephalon ist.

Die Fähigkeit, die Bedürfnisse eines Organismus zu befriedigen, die Fähigkeit einer persönlichen passenden und produktiven Antwort auf die außerhalb des Organismus stehenden Bedingungen sind für mich auf eine höchst rigorose logische Fähigkeit zurückzuführen, die abgesehen von der enzephalischen Speicherung diese in ihrer wesentlichen Funktion ersetzt. Wie ich dir bereits gesagt habe, besitzen auch azephale, also nicht rationale Organismen diese Fähigkeit des logischen Verhaltens, daher sind Rationalität und Logizität zwei voneinander unterschiedliche Entitäten und doch stuft die vor der enzephalischen Rationalität stehende Stringenz die enzephalische Rationalität als Logik ein, da diese hinter jener steht und jene sie von Grund an aufbaut.  Es ist also klar, daß es Stringenz ohne Rationalität, aber keine Rationalität ohne Stringenz geben kann.

Diese Stringenz oder finalisierte Folgerichtigkeit erzeugt das Leben. Wo keine Stringenz ist, fehlt auch die Möglichkeit zum Überleben.

Irrational, jedoch noch immerhin logisch kann also nur das Werk eines azephalen Organismus sein.

Nachdem wir die Rationalität von der Logizität unterschieden haben, sollte darauf hingewiesen werden, wie eben gesagt, daß die enzephalische Rationalität das planmäßige Gedächtnis der logisch-effizienten, peripheren Fähigkeiten des Organismus ist. Im Gegensatz zur Vorstellung der so genannten modernen Künstler ist also die Form der Kunst zunächst äußerst logisch, da sie eine Eigenschaft der Natur auf jedem Niveau, einschließlich des subatomaren Niveaus ist. Zweitens ist sie rational, denn sie besteht aus dem enzephalischen Gedächtnis der peripheren Zellenlogik. Nur dort, wo die Zellenstringenz abwesend ist, wird auch jede enzephalische Rationalität und daher jede emotionale zerebrale Antwort sowohl beim Künstler als auch beim Nutznießer seines Werkes fehlen.

Eine Gruppe von Wissenschaftlern führte bei einem Makaken ein Experiment durch, das die Abhängigkeit jeder zerebralen Emotivität von der Zellenlogizität bestätigt.

Die Reaktionen des enzephalischen Systems wurden elektrisch registriert, um die Menge der Neuronenantworten des Affen vor einer Zeichnung zu bestimmen (die Neuronen des Affen stimmen mit denen des Menschen überein). Dem Tier wurde ein menschliches Gesicht von vorne gezeigt. Dann wurde ihm dieselbe Zeichnung gezeigt, jedoch ohne Augen. Danach wurde ihm die Zeichnung mit naiven Linien gezeigt, wie man heute im künstlerischen Fachjargon sagt. Dann wurde das Bild auseinandergelegt und wurden die Teile ohne logischer Beziehung zueinander einer ähnlichen Zeichnung gezeigt, die man heute abstrakt, nicht figurativ, d.h. ohne Analogie zu den genetischen Formen nennt. Die Neuronenantworten waren vor dem ersten Bild am intensivsten, wurden allmählich schwächer und waren beinahe beim Anblick des abstrakten Vorschlages  verschwunden (Jean Pierre Changeux, Ragione e piacere, Cortina 1995. S. 25).  Wie ich Dir bereits sagte, hat Moruzzi bewiesen, daß die Struktur des Gehirns von der Struktur der von den Sinnen übermittelten Bilder der Natur vorgeschrieben ist. Auch dieses Experiment beweist, daß das Wahrnehmungsvermögen des Encephalons nur dann einer emotionalen Reaktion ausgesetzt ist, wenn die im Encephalon empfangenen Bilder logisch sind. Damit ist experimentell erwiesen, daß die so genannte abstrakte Kunst keinerlei Emotivität hervorruft, weil  sie die Logik der Bilder nicht besitzt. Es ist festgestellt worden, daß das Gehirn nur die logische Figur erkennt. Der Begriff der Form besteht also, weil ihre Struktur logisch-effizient ist. Damit will ich sagen, daß die Wirklichkeit so ist, wie die Sinne sie wahrnehmen und folglich nur so, wie das Encephalon sie erdenkt. Über die logische Form hinaus besteht daher keine enzephalische Tätigkeit.

Beginnend von den einzelligen Organismen ist diese Logik der Sinne in der gesamten Natur zu sehen. Die Logik der Zellen und zwangsweise auch die der Moleküle und der Atome führte zum Aufbau unseres zentralen Nervensystems, wie ich Dir schon gesagt habe, das die letztendliche Struktur zur Koordination der logischen Bedürfnisse der verschiedenen Teile des Organismus ist. In ihrer Funktion nennen wir diese Koordination Rationalität, die ausbleibt, wenn der Sinneswahrnehmung die logischen Formen fehlen. Diese werden im enzephalischen Gedächtnis bewahrt und ermöglichen eine Rationalität auch lange Zeit nach der logisch-sensoriellen Wahrnehmung. Es kann scheinen, jedoch nur scheinen, daß diese Rationalität eine Entität sei, die von der logisch-sensoriellen, dem Gehirn von den Nervenzellen übermittelten Wahrnehmung unabhängig ist. Die Existenz eines „reinen“, von den Sinnen unabhängigen Verstandes war scheinbar möglich.

Und nun sage ich Dir, warum ich mich vor dem Kern der Sache so lange mit einem Vorwort aufgehalten habe. Heute gibt es so genannte Künstler, die die logische Form der Natur aufgegeben haben und sich auf Dich berufen, denn ihrer Vorstellung nach hast Du die Kunst verurteilt, da sie figurativ, d.h. logisch ist.

In Wirklichkeit sind diese Künstler Nacheiferer eines gewissen Professor Hegel, der sich seinerseits auf Immanuel Kant gründete, den Philosophen, der generell als Vater der gesamten modernen Philosophie betrachtet wird. Ich werde Dir dann sagen warum. Dieser Professor Hegel, unter anderem Lehrer der Ästhetik, der Dich plagiierte, indem er sich Deiner in den Dialogen der „Gesetze“ und des „Hippias II“ dargelegten Argumente bediente, sagte, daß die Kunst eine ihre Kräfte übersteigende Aufgabe habe und durch die Anstrengung ihres Wetteiferns mit der Philosophie ausgestorben wäre. Professor Hegel hielt sich für einen Philosophen und sagte daher, daß die Philosophie geeigneter als die Kunst sei, die „höchsten Geistesinteressen“ zu Bewußtsein zu bringen. Die Kunst konnte höchstens überleben, wenn sie ihre Form aufgegeben hätte. Streitobjekt ist, wie Du siehst, die logische Form der Natur und heute sind andere berühmte Professoren davon überzeugt, daß die Logik der Naturform nicht dieselbe der enzephalischen Vernunft sei. Wie Hegel denken sie hingegen, das „Fleisch“ stehe so weit unten, daß es vom „Geist“ erlöst werden muß, wobei unter „Fleisch“ die Logik der Natur und unter „Geist“ jede Seltsamkeit an der Grenze der von irgendeiner Dysfunktion oder von einer enzephalischen Verletzung erzeugten Demenz zu verstehen ist.

Diesen Einfall des „Geistes“, der das „Fleisch“ besiegt, hat der falsche Meister kopiert und seinen Schülern als seinen eigenen aufgetischt.

In der Überzeugung, eine gute Tat zu tun, verkündeten diese ihrerseits, daß die Kunst entweder stirbt, wie ihr Meister wollte, oder überlebt, ohne eine „Kopie“ der Wirklichkeit zu sein, das heißt, indem sie sich von ihrem „Fleisch“ befreit, das so tief unten stünde.

Diese neue Kunst als reiner Geist nennt sich „abstrakt“ und entsteht, wie Du bereits verstanden hast, ohne die logische Form der Wirklichkeit.

Der „Künstler“ tritt bei der Eröffnung seiner Ausstellung auf und sagt „Kunst ist“, aber niemand sieht etwas, denn würde der Künstler etwas zeigen, wäre die geistige Reinheit seiner Kunst verdorben. Vor einiger Zeit zeigten die „Künstler“ weiße Leinwände oder ihren Kot und identifizierten diese Dinge als den künstlerischen Gegenstand, aber sie waren naiv und sind nunmehr von den letzten geistig reinsten Einfällen überholt. Jetzt, um die Anwesenden bei der Eröffnung der Ausstellung seiner Kunst aufzumuntern und ein sichtbares Zeichen davon zu hinterlassen, daß es die Kunst gibt, sie aber als reiner Geist mit den Augen des „Fleisches“ nicht erkennbar ist, schneidet der Künstler Plastik, Stoff, Papier, Kondome oder mit Menstruationsblutungen verschmutzte Binden in kleine Stücke und verteilt sie an die Gäste, die dann glücklich ins Restaurant gehen mit der Überzeugung, die Kunst habe sich endlich von ihren „Zufällen“ befreit.

Wie ich Dir sagte, legte Immanuel Kant den Grundstein davon. Dieser Kant sagte, daß die Ideen der Wirklichkeit sich in uns nicht deswegen bilden, weil die Bilder der Wirklichkeit unser Gehirn modellieren, wie Moruzzi bewiesen hat, sondern weil unser Gehirn aufgrund seiner Fähigkeit oder einer Vorbestimmung seiner a priori bestehenden Struktur die Wirklichkeit modelliert. Implizit gibt Kant zu, daß die „Kategorien“ des „reinen Verstandes“ sich im Gehirn befinden. Du mußt dabei bedenken, daß unser Gehirn nach Kant wie eine Form ist, eine jener Backformen, womit man in der Küche schön geformte Kuchen herstellt: gut, die aprioristischen Bedingungen sind diese Formen, die wir anstelle jenes Teils des plastischen Gehirns besitzen sollten, das sich nach den sensoriellen Erfahrungen modelliert und wie ich Dir bereits beschrieben habe, sich ausgehend von einer formlosen Voraussetzung oder in Energiekraft zu einer Struktur aufbaut. Wie ich Dir gesagt habe, wäre die Form der Natur für Kant wie ein Mehlteig, der nur dann Gestalt erhält, wenn man ihn in eine Kuchenform gibt, aber Kant konnte das, was wir dank der Erkenntnisse der Wissenschaft heute denken können, nicht denken. Die Idee der Wirklichkeit wäre also nach diesem Philosophen von der Form abhängig, die wir a priori besitzen würden. Die Wirklichkeit wäre von uns selbst hergestellt und würde außerhalb von uns nicht bestehen, in jedem Fall hätte sie nicht die Form, die wir sehen.

Er glaubte so fest daran, daß er Folgendes schrieb: „Nichts Schlimmeres könnte diesen (meinen) Anstrengungen widerfahren, als wenn jemand die unerwartete Entdeckung machen würde, daß die Kenntnis a priori nirgendwo ist und sein kann“ (I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Laterza, 1983, S. 13). Aber jemand hat die unerwartete Entdeckung gemacht: es ist die Evolution der Arten, die jede unbewegliche Erkenntnis und infolgedessen jegliche unbewegliche oder aprioristische Bedingung der Erkenntnis ablehnt.

Die Evolution ist jeder Umwandlung des Individuums und der Arten offen und die Kategorien erscheinen uns als nicht unbeweglich, sondern in Evolution. Die Kategorien erscheinen uns nicht als Bedingungen der Erkenntnis, sondern von der Erkenntnis bedingt, wie Moruzzi bewiesen hat.

Unterstützt von Kant sagte also Hegel, daß der „Geist“, der jenes Etwas im Kampf gegen das „Fleisch“ wäre, den künstlerischen Kampf nur dann gewinnen würde, wenn er auf die logische Form der Natur verzichtet. „Man kann wohl hoffen, daß die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein“ (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Suhrkamp 1999, S. 142).

Wie Du siehst, sind diese so genannten modernen Künstler, die von den wissenschaftlichen Erfahrungen widersprochen werden, auf der verzweifelten Suche nach Stützpunkten für ihre Theorie der Kunst ohne Form. Da Du gesagt hast, daß die Form der Kunst die „Kopie“ der Wirklichkeit sei und die Form der Wirklichkeit die „Kopie“ der Idee der Art, d.h. Kopie der von Gott gegebenen Idee, also einzige wahre Wirklichkeit, sind diese Künstler der Meinung, die figurative Kunst sei falsch. Um „wahr“ zu sein, dürfte sie keine Kopie der Kopie der „Wahrheit“, d.h. Kopie der Kopie der Idee „von Art“ sein. Sie fühlen sich mit Dir verwandt, weil Du gesagt hast, daß die Kunst nicht wahrheitsgetreu ist. Ich möchte Dich bitten, diesen eifrigen Menschen Deinen wahren Standpunkt in bezug auf den Wert des Begriffes von „Kopie“ und von Wahrheit zu klären. Aber da diese so genannten Künstler und ihre Ausdeuter letzten Endes über mich verärgert sind, weil ich meinen Kot in einer Dose nicht verschließe und daher „die Intuition des Geistigen“ nicht verleihe, würde ich mir erlauben, ihnen Deine Theorie der „Kopie“ und der „Wahrheit“ der Kunst darzulegen, selbstverständlich mit Deinem wunderbaren Text in den Händen. Und mit Deiner Zustimmung würde ich Folgendes sagen: Platon konnte der Kopie den negativen Wert von falsch nicht verleihen, was das Gegenteil der Wahrheit bedeutet, sondern nur den Wert von „entfernt von der Wahrheit“ (Platon, Politeia X, Rizzoli 1953, S. 476).

Diese Auslegung trifft meiner Meinung nach auf keinen Widerspruch, denn hätte er gesagt, die Kunst sei das Gegenteil von der Wahrheit, das heißt falsch, nur weil sie eine Kopie der Wirklichkeit ist, dann hätte er gesagt, die Wirklichkeit sei auch falsch, da sie eine Kopie der Idee von „Art“ ist.

Nicht nur das, Platon sagt dazu, daß die Ideen der „Art“ von Gott stammen, der ihr Urheber wäre. Wenn wir also aufgrund ihrer Abstammung aus den Ideen der „Art“ eine falsche Wirklichkeit erhalten, würde das bedeuten, daß auch die Ideen der „Art“ falsch sind, da sie auch der Abstammung (von Gott) unterliegen. Vom Wahren kann das Falsche nicht abstammen und auch nicht vom Falschen das Wahre und wenn die Ideen der „Art“, die von Gott abstammen, falsch sind, ist auch Gott falsch.

Aber das hat Platon nicht gesagt und darum ist die platonische Kopie die Teildarstellung der göttlichen Wahrheit. Alle können akzeptieren, daß die primäre Idee weit entfernt von der zweiten ist, die zweite von der dritten, ohne aus diesem Grunde zu behaupten, daß die zweite und die dritte falsch sind. Die figurative Kunst ist also die Kunst der Wahrheit, auch wenn sie sich nicht in der Göttlichen identifiziert. Im Übrigen hat das noch niemand jemals behauptet.

Wenn man jedoch mit der Hand auf dem Herzen die wundervollen Dialoge Platons liest, versteht man sehr wohl, wogegen Platon seinen strategischen Kampf führt.

Platon unterscheidet die „technische oder wissenschaftliche Fähigkeit“ (Platon, Das Ion, Rizzoli 1953, S. 90), d.h. „die Fähigkeit, für einen Zweck zu handeln“, vom Zweck, d.h. von der Thematik der Kunst. „Diese Fähigkeit, für einen Zweck zu handeln, hälst Du sie also für schön, wenn sie nur Schäden erzeugt?“ (Platon, Hippias II, Rizzoli 1953, S. 556).

Die Mimesis mit etwas Minderwertigen geht einher und erzeugt daher minderwertige Produkte“ (Platon, Politeia X, Rizzoli 1953, S. 476). Man sieht deutlich, daß die „Mimesis“ an sich als solche nicht minderwertig ist. Wenn tatsächlich die Thematik der Kunst die Wahrheit sagen würde, wäre dies eine schöne Sache. „Wir sind uns bewußt, dem ganzen Zauber der Dichtung zu erliegen“ (Platon, Politeia X, Rizzoli 1953, S. 482) und da die Dichtung die Hauptangeklagte ist und nach ihr die Malerei, versteht man, daß sie beide mit folgenden Worten frei gesprochen werden müssen: „Nicht gering wird tatsächlich der Vorteil sein, wenn die Dichtung nicht nur süß und lieblich, sondern auch nützlich erscheinen wird“ (Platon, Politeia X, Rizzoli 1953,S. 438). Habt ihr vergessen oder wißt ihr wohl nicht, daß „die Dichter von göttlicher Abstammung sind, in ihnen göttlicher Odem ist. Mit Hilfe der Chariten und der Musen schöpfen sie die Wahrheit aus vielen Dingen“ (Paton, Gesetze, Rizzoli 1953, S. 341), daher sagen sie nicht das Gegenteil der Wahrheit.

Und daß die Mimesis als solche nicht schuldig sei, liest man es im zweiten Buch der „Gesetze“. „Wenn wir wissen dürfen, daß die Kopie dank künstlerischer Fähigkeit all ihre Teile, die Farben und die richtige Figur erhalten hat, folgt es etwa nicht daraus, daß diejenigen, die das wissen, auch wissen, ob das Werk schön ist oder irgendeinen Mangel an Schönheit aufweist?“

„Das Kriterium der Richtigkeit in der Mimesis ist nämlich, wie wir gerade sagen, genau das: ob die nachgeahmte Sache ganz genau vollkommen dem Original entspricht“. Platon will eine perfekte Mimesis, andernfalls wird sie verurteilt, da sie nicht wahr ist. Da Platon gesagt hat, daß die Idee das erste Modell der Form sei, aus welchem die Kopien stammen, so werden die Kopien ihrem Modell gemäß formal sein und eure Theorie der Ideen ohne Form kommt ins Wanken. Das würde ich sagen.

Lieber Platon, ich wollte eigentlich diesen Brief abschließen, aber mir ist nun etwas eingefallen: Nachdem ich erklärt hatte, daß es zwei rationale oder enzephalische Ideen gibt, und zwar die eine, die die von den Sinnen übermittelte Realität darstellt und die andere, die zukünftige Realitäten plant, erkannte ich, aber das habe ich Dir ja schon gesagt, daß unsere Ahnenzellen und die jetzigen Zellen eine finalistische Wirksamkeit wie die des Encephalons hatten und haben. 

Diese Wirksamkeit der Zellen haben wir logisch-effiziente Fähigkeit genannt, das heißt mit Anpassungsfähigkeiten zum Überleben ausgestattet und versehen mit der Fähigkeit, planmäßig Informationen an das Encephalon zu übermitteln. Ich werde mir nun dessen bewußt, daß auch diese Fähigkeiten sich in zwei konsequenterweise logischen Phasen abwickeln: die erste unterrichtet die Zelle der Realität, die vor ihr steht, die zweite verleiht ihr Effizienz bei der projektmäßigen Übermittlung der erlernten Realität an das Encephalon und wartet gleichzeitig auf eine Anordnung oder einen Befehl des Gehirns, die nutzbringend, d.h. projektmäßig zu eigener Gunsten und zugunsten des gesamten Organismus auszuführen seien.

So sehe ich, daß auch die einzelnen Zellen, genau wie das rationale Encephalon, zwei „Ideen“ haben, die von zwei unterschiedlichen Funktionen gekennzeichnet sind. Daher würde ich jetzt von Dir erwarten, daß Du sagen würdest, die logisch-effiziente Tätigkeit der Zellen sei auf zwei „Ideen“ zurückzuführen, auch wenn sie nicht in einem enzephalischen Gedächtnis aufbewahrt sind. Nicht nur das. Da diese Ideen grundlegend der rationalen enzephalischen Ideen sind und da sie mit diesen das Bedürfnis nach ihrer Existenz gemeinsam haben, würde ich erwarten, daß Du sagen würdest, die logisch-effizienten Fähigkeiten oder Ideen der einzelnen Zellen, weil sie vor den rationalen enzephalischen Ideen stehen, seien von der Wahrheit weniger entfernt und näher an Gott als die rationalen enzephalischen Ideen, die Deiner alten Lehre zufolge eine Kopie der Zellideen sein dürften. Ich denke auch, daß Du hinzufügen würdest, die rationalen oder enzephalischen Ideen, die aus von den Zellen übermittelten Nachrichten gebildet sind, seien keine mit Hilfe von einer vorbestehenden oder a priori gegebenen enzephalischen Kuchenform gemachten Törtchen, wie Immanuel Kant und die so genannte aus ihm herkommende moderne Welt sagen.

Du würdest auch noch erklären, daß die enzephalisch-rationalen Ideen, die von den logisch-effizienten Zellideen nach einer Planfinalität gebildet sind, die Wirklichkeit mit ihrem Plan verändern, sodaß die durch den Plan renovierte Wirklichkeit, da sie von den logisch-effizienten Zellen wieder wahrgenommen und erneut dem Encephalon übermittelt wird, zur Bildung eines darauffolgenden enzephalischen Projekts beiträgt, das ebenso kreisförmig von den Zellen wieder wahrgenommen und erneut dem Encephalon übermittelt wird. So tragen die logisch-effizienten Ideen der Zellen und die enzephalischen Ideen zusammen zur Evolution der vorhergehenden formalen Wirklichkeit bei.

Du würdest klar stellen, daß es unmöglich sei, die Zellidee von der enzephalischen Idee und diese von der Existenzform zu trennen, wie es Moruzzi beweist, und daß die Ideen der Wirklichkeit  keine „Kopien“ der Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit selbst sind.

Lieber Platon, sage diesen Leuten, die in die Wahrheit verliebt sind, daß der künstlerische Informalismus die Existenz einer von seiner Quelle unabhängigen Kenntnis fordert. Er fordert die Trennung der enzephalischen Idee von ihrer logischen, von der Freiheit der Zellen unseres Organismus gegründeten Form. Und das scheint mir, abgesehen von allen Lehren und angesichts der modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse, eine Schnurre.

Ich bezeige Dir meine Hochachtung und danke Dir für Deine „Dialoge“, die für mich zusammen mit den Zelleninformationen meines Organismus der Grund meiner Vernunft waren und sind.

Dein

 

Mario Donizetti

Copyright Mario Donizetti - 1997/2000

 


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